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20’000 TONNEN BOMBEN AUF DIE HAUPTSTADT ODER DAS UNERBITTLICHE RAUSCHEN DER ZEIT

«Als ich acht Jahre alt war, hingen überall Lautsprecher in den Strassen und Gassen. So ganz kleine Lautsprecher aus Metall. Wenn die Bomber der Amerikaner Richtung Hanoi im Anflug waren, warnten uns die Stimmen aus diesen Lautsprechern. Versteckt Euch! Geht in Deckung! Dann sind wir nur noch gerannt. Es geschah genau hier. An dieser Strasse. Ich war gerade mal acht Jahre alt. Im Jahr 1972. Da ist es plötzlich losgegangen. Bombenalarm. Eine erwachsene Frau hat mich dann blitzschnell in einen Hauseingang gezogen, mich in einen kleinen Keller gebracht. Dort unten waren schon viele Leute versammelt. Wir konnten im engen Raum nicht sitzen, konnten alle nur stehen. Ich habe mir die Ohren zugehalten. Aber es hat nichts genützt. Donnernde Explosionen. Extrem laut. Unaufhörlich. Und das ganze Gebäude zitterte. Ich hatte solche Angst.»

Hai unterbricht seine Erzählung und schaut mich an, irgendwie fragend. Ich bin in einem Strassen-Café mit ihm ins Gespräch gekommen. In der Altstadt von Hanoi. Er kann Deutsch. Er hat es Mitte der 1980er Jahren gelernt. In Ostberlin.

Drei Jahre habe er im sozialistischen Bruderland DDR eine Ausbildung gemacht. Als Textilfärber. Und abends Deutschkurse besucht. Wir teilen uns den gleichen Jahrgang. Seine Sprachkenntnisse kommen ihm heute entgegen, wie er sagt: «Englisch kann fast jeder. Aber Deutsch sprechen hier nur wenige. Weil ich diese schwierige Sprache gelernt habe, kann ich immer wieder allerlei gut bezahlte Arbeiten ausführen. In Hanoi gibt es im Moment nicht viel Arbeit. Die meisten Leute hier sind arm, so arm. Alle jungen Menschen aus dem ländlichen Norden ziehen in diese Stadt. Denn auf dem Land gibt es keine Chancen, keine Zukunft mehr. In meiner Kindheit war Hanoi eine kleine Stadt. Heute ist sie riesig. So viele Menschen, so viel Verkehr. Aber die meisten Menschen, die hierher ziehen, finden kein Glück. Sie wohnen in ganz kleinen Zimmern, fünf Personen, sechs Personen. Sie arbeiten in den neuen Fabriken. Für wenig Geld. Und am Abend haben wir immer Nebel…»

Alle nennen es hier Nebel, alle nennen sie es Fog..

Als ich gelandet bin, musste ich sofort an Beijing, China, denken. Oder an Bangkok, Thailand, in den frühen 1990-er Jahren – wie es den Skytrain noch nicht gab. Als ich diesmal mit dem Taxi, vom Flughafen her, in die vietnamesische Hauptstadt gekommen bin, zum ersten Mal seit über 22 Jahren hierher gekommen bin, ist mir jedenfalls ein ganz bestimmtes Wort im Hirn aufgestiegen: Smog. Der moderne Atem des Drachen. Und dann sind wir über die Brücke gefahren. Über den roten Fluss.

Der trug einst ein hübsches blau-grünes Gewand. Heute ist er braun, schlammig. Garniert mit öligen Schichten in ungesunden Regenbogenfarben. Industrie. Hier oben im Norden gehen sie den Weg der Chinesen, denke ich. Und dann erhebt sich diese Riesenstadt aus dem Nebel. Mein Taxi navigiert langsam durch eine gewalttätige Verkehrsflut, die Strasse, Gassen, Gehsteige überrollt. Motorräder, viele Fahrerinnen und Fahrer tragen Helme und Stoffmasken, Autos, Busse, beinahe ist hier kein Durchkommen mehr. Jede Lücke, noch die allerengste,  wird motorisiert penetriert. Aus dem Taxifenster betrachte ich die Stadt, erkenne sie nicht wieder.

Vor 22 Jahren bin ich nicht etwa von Nha Trang – also vom Cam Ran-Flughafen aus – nach Hanoi geflogen, wie ich es heute getan habe. Vielmehr bin ich damals mit den Zug angereist. Mit dem Nachtzug aus Hue. Auch seinerzeit im November. Zusammen mit Tina und Eva. Die Reise war ein unvergessliches Erlebnis. Wir teilten unser Viererabteil mit einem uralten, ausserordentlich freundlichen Cantonesen.

Er hat Zeitung gelesen und uns angelächelt, wie meine geliebte Grinsekatz’ einst die kleine Alice angelächelt hat. Nachdem er meine Begleiterinnen genauestens gemustert, im Geiste wohl gänzlich entblättert hatte, ein Kleidungsstück nach dem anderen, ausser vielleicht Strümpf’ und Schuh’, zudem hat seine Fantasie die Ladies gewiss in alle Richtungen gedreht und gewendet, sie gebeugt, gedehnt, gespreizt, ganz im Geiste jener ausschweifenden chinesischen Erotika, die auch ich immer gerne lese und betrachte. Plötzlich hat er mich gefragt, wie es denn komme, dass ein derart junger Mann gleich mit zwei schönen Frauen verheiratet sei. Meine Antwort, dass von verheiratet keine Rede sein könne, wollte ihm jedoch einfach nicht in den Kopf passen.

Zum Abschied boxte er mich dann sanft in den Bauch und meinte vergnügt: «Ich hätte die auch gleich beide geheiratet; you are a lucky man!!!»

Der Zug bewegte sich jedenfalls mit etwa 40 Stundenkilometern durch die Landschaften des Nordens. Hier seien die Leute sehr arm, hat uns der Alte wissen lassen, der seine wenigen Englischbrocken sehr effizient einsetzen konnte. Wir sollten den Händlerinnen an den Bahnhöfen Lebensmittel und Getränke abkaufen, um sie finanziell zu unterstützen, also haben wir es getan. Tausendjährige (Enten-)Eier, Baguettes, frittierte Rollen, kleine Spiesschen, gebratene Frösche, Glasflaschen, gefüllt mir bitterem Tee – und dafür in den folgenden drei Tagen alle mit heftigen Durchfällen bezahlt. Schon damals habe ich jeden Brechdurchfall in Kauf genommen, wenn ich nur exotisches Essen probieren konnte.

Und so halte ich es noch heute, über drei Dutzend Asienreisen später. Ich bin also nicht klüger geworden.

Aber das Glück stand in dieser Sache trotzdem immer auf meiner Seite. Ich bin nämlich auch nie ernsthaft krank geworden. Wahrscheinlich hat mich jener exzentrische chinesische Gott Fo-Hi beschützt, der Elemente von Zeus und von Bacchus in seinem komplexen Charakter vereinigt. Und ganz gewiss ein Herz für kulinarische Abenteurer hat.

Dann sind wir angekommen. Hanoi Hauptstation. Frühmorgens.

Das war eine beschauliche Stadt. Der Strassenverkehr bestand aus Fahrrädern, teils abenteuerlichen Konstruktionen mit denen man ganze Familien plus Gepäck, plus einige lebende Enten und Hühner transportieren konnte. Dazu kamen klapprige Busse, ausgemusterte Geschenke aus dem sozialistischen Bruderland Sowjetunion, deren Federung sich schon lange verflüchtigt hatte, und wenige Taxis, die nicht minder rumpelten. Alle Leute, Frauen, Kinder Männer, trugen identische Kleidung, blaue und grüne Uniformen, dazu Käppis, die Tracht von Onkel Ho halt, von Bac Ho, wie sie hier sagen. Im Hotel herrschte eine spät-sozialistische Frugalität.

Die anderen Gäste waren fast ausnahmslos russische Ingenieure, gebildete Melancholiker, die am Abend Wodka tranken und traurige Lieder sangen – und mit denen man über Puschkin, Kant, Schopenhauer diskutieren und rabenschwarze Selbstmordwitze reissen konnte. Ich fühle mich unter Osteuropäern meistens sehr wohl, sie sind in Sachen Literatur und Kultur oft gebildeter als durchschnittliche Westeuropäer.

Ich riskiere bei diesen Menschen zudem fast nie, dass ich mit meinem abwegigen Todeshumor anecke, sie freuen sich vielmehr darüber – und setzen dann gleich noch einen drauf.

Ja damals, zu Anfang der 1990er Jahre, gab es noch kaum Touristen in Vietnam. Das Land hatte sich erst gerade für Reisende geöffnet. An jedem Ort musstest du dich bei der Polizei an- und wieder abmelden. Wenn an einem Ort kein Hotel zur Verfügung stand, hat man uns manchmal kurzerhand in einem Museum untergebracht. Etwa in Da Lat, dort haben wir in einem Zimmer des Kaiserpalastes übernachtet, dem ehemaligen Schlafraum der Kaiserin, in einem riesigen Bett, in dem auch sechs Personen Platz gefunden hätten. Wir waren die einzigen Schlafenden in diesem mächtigen Gebäude, das ansonsten von allerlei umtriebigen Geistern aus der Kolonialzeit bewohnt war, mit denen ich in den Nächten munter diskutiert habe. Der alte Diener des Kaisers, er konnte gut Französisch, hat uns in der Morgenfrühe frische Baguettes gebracht.

Überall begegneten uns die Menschen mit grosser Freundlichkeit und Neugier. Niemand hat uns belästigt, niemand angebettelt. In Hanoi waren wir meistens die einzigen Europäer auf der Strasse. Es war eine beschauliche, überschaubare Stadt. Vor dem Ho Chi Minh-Mausoleum haben wir mit den Soldaten Zigaretten geraucht und gelacht. Immer wenn wir die Leute nach dem Vietnamkrieg gefragt haben, antworteten sie: «Welcher Krieg? Wir hatten hier immer Krieg. Oft gegen die Chinesen. Aber Ihr meint sicher den amerikanischen Krieg…» Was wir in Europa Vietnamkrieg nennen, heisst hier nämlich amerikanischer Krieg.

So drehen sich die Perspektiven auf dem Globus – während derselbige sich dreht…

Und heute? Hanoi? Eine Metropole, die sich im Überschalltempo entwickelt. Nicht ganz so optimistisch wie Saigon. Härter. Nördlicher. Ärmer. Hier oben im Norden dürfen Konzerne aus der westlichen Welt monströse Industrieareale aufziehen. Ohne viele Rücksichten zu nehmen. Nicht auf die Umwelt. Und schon gar nicht auf die Menschen. Eine exemplarische Geschichte, in Asien überall gang und gäbe. Was vor 22 Jahren so relaxed daherkam, hat nun einen Blutdruck wie ihn ein Mensch kurz vor dem Hirnschlag aufweisen mag. Ich schaue aus dem Taxifenster. Kann es kaum fassen.

Die vergangenen 22 Jahre kommen mir plötzlich so kurz vor. Was habe ich denn in dieser Zeit schon gemacht? Wie ist aus einem fröhlichen 28jährigen plötzlich ein schwieriger Mensch geworden, der vor seinem sechsten Lebensjahrzehnt steht? Wo ist der lange Zopf geblieben, der zwischen meinen Schulterblättern Richtung Hintern heruntergefallen ist? Wo kommt plötzlich dieser Bürstenschnitt her? Woher der seltsame Hut? Woher die Sorgen? Der grosse Zeitraffer erfasst mich. 22 Jahre? Ein Augenblick! Ein Blinzeln des grossen Gottes Vishnu nur, wenn überhaupt…

Und genauso geht es mit zwei Tage später. Vor jenem Strassen-Café in der Altstadt von Hanoi. Während Hai erzählt. «Nach dem Bombardement sind wir auf die Strasse gerannt. Es hat in den Ohren gepfiffen. Ich war wie betäubt. Überall Staub, überall Blut. Alles war kaputt. Es war schrecklich, so schrecklich. Ich war acht Jahre alt.» Er sagt dies ganz unsentimental. Schaut mich danach aber wieder fragend an. Ja ich weiss. 1972, an Weihnachten, haben die Amerikaner hier 20’000 Tonnen Sprengstoff abgeworfen, aus jenen so genannten fliegenden Festungen, ihren B-52 Bombern, nach denen später ein Cocktail benannt wurde – und eine New Wave Band. Dieser mörderische Akt, geplant von einem Stab um den Unglückspräsidenten Richard M. Nixon und den späteren Friedens-Nobelpreis-Träger Henry Kissinger, hiess Operation Linebacker II… Das klingt heute irgendwie wie Rambo II oder Terminator II.

Und die Zeitspirale in meinem Hirn beginnt sich zu drehen. Vor 22 Jahren war ich schon einmal hier. Momentan kommt es mir vor, als wäre es erst gestern gewesen. Gestern. Doch nochmals zwanzig Jahre vorher hat es hier Bomben geregnet. Aus amerikanischen Sturmwolken. Geleitet vom eiskalten Wind politischer Wahnideen. An Weihnachten 1972 hat sich Hai hier in einem Kellerloch versteckt. Zitternd um sein Leben. Ich sass währenddessen gemütlich unter einem geschmückten Tannenbaum. In der warmen Stube. Mit Mutter, Vater, Grossmutter und meinem Onkel Dante aus Schweden. In Erwartung der Bescherung und des Weihnachtsbratens…

Sind diese ersten 20 Jahre auch so schnell vergangen wie die 22 Jahre danach? Eigentlich schon. Sie sind vergangen wie Eiswürfel an der Sonne. Ein kurzes, unerbittliches Rauschen der Zeit.

1972 war ich ein Primarschüler in einem sehr sicheren Land, in einem ziemlich sicheren Europa. Die Erwachsenen haben mir damals manchmal von einem grossen Krieg erzählt, der lange vor meiner Geburt getobt habe. Lange? 20 Jahre vor meiner Geburt musste meine Grossmutter mit meinem Vater und meinen Onkels in den Keller hinuntersteigen, wenn die Sirenen ihr schreckliches Lied gesungen haben. 20 Jahre vor meiner Geburt hatte der Zweite Weltkrieg die Menschheit in seinem eisernen Würgegriff. 20 Jahre vor meiner Geburt hat Hitler gewütet.

20 Jahre. Eine lange Zeit? Wie ich acht Jahre alt war, ist es mir wohl so vorgekommen. Unendlich lang. Heute weiss ich, dass 20 Jahre wie im Flug vergehen. Wie im Rausch. Gerade einmal blinzelt der grosse Gott Vishnu in 20 Jahren, wenn überhaupt…

Wir alle Leben und Vergehen im Rauschen der Zeit. Unter Bomben, geschmückten Tannenbäumen, mit unseren Freuden, Ängsten, Tränen, arbeiten, lieben, morden… Die Zeit selbst kümmert es wohl nicht. Was bleibt? Das weiss kein Mensch.

Obwohl sich mir diesbezüglich eine leise Vermutung aufdrängt. Es bleibt am Ende wohl: NICHTS. Jean Paul Sartres Nichts? Nein, nur mein ganz persönliches kleines Nichts, in dem kein Körnchen Sein Platz findet. Und das beruhigt mich. Für einen kurzen Moment nur. Der vielleicht so 25 Jahre lang dauern mag…

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Autor: Christian Platz

Lebt in Basel. Arbeitet überall. Reist recht viel. Vor allem nach Asien. Und in den Deep South der USA. Verdient sein Geld seit über einem Vierteljahrhundert mit Schreibarbeiten. Vorher hat er als Pfleger in einer Irrenanstalt gewirkt. Hat mehrere Bücher veröffentlicht. Spielt seit 40 Jahren fanatisch Gitarre, zwischendurch singt er auch noch dazu. Schreibt unter anderem für Kult. Ist manchmal gut aufgelegt. Manchmal schlecht. Meistens so mittel. Sammelt Bücher, CDs, Filme, Artefakte. In einem psychisch leicht auffälligen Ausmass. Verfügt, bezüglich der Dinge, die er sammelt, über ein lexikalisches Wissen. Platz ist einerseits ein Wanderer auf dem Pfad zur linken Hand. Andererseits Neofreudianer mit Waffenschein. Liebt Blues und Voodoo, Rock'n'Roll und die schwarze Göttin Kali. Trinkt gerne Single Malt Whisky aus Schottland. Raucht Kette. Ist bereits über 50 Jahre alt. Macht einstweilen weiter. Trotzdem wünscht er nichts sehnlicher herbei als die Apokalypse.

WARNHINWEIS:
Dieser Mann tritt manchmal als katholischer Geistlicher auf, stilecht, mit einem besonders steifen weissen Kragen am Collarhemd. Dies tut er in gänzlich irreführender Art und Weise und ohne jegliche kirchliche Legitimation. Schenken Sie ihm - um Gottes Willen - keinen Glauben. Lassen Sie sich nicht von ihm trauen, ölen oder beerdigen. Lassen Sie sich von ihm keinesfalls Ihre Beichte abnehmen. Geben Sie ihm lieber Ihr Geld.

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