in

Die Stadtpräsidentin

OLYMPUS DIGITAL CAMERA

Viel hatte ich nicht erwartet. Aber als Schauspielerin in einem kleinen Land darfst Du ja nicht zu viel erwarten. Natürlich hatte ich mich gefragt, warum mich ausgerechnet eine bürgerliche Partei zu einem Vorsprechen einlud und wozu ich eine «Stillschweigevereinbarung» unterschreiben musste. Wie gesagt, als Schauspielerin fällt es nicht immer leicht, die Miete zusammenzukratzen. Zwar hatte ich erst kürzlich über mich lesen können, für mein Alter sei ich noch «gut beieinander». Keine grosse Hilfe, auch wenn man es mit grossen Lettern in die Welt hinausschrie. Mein 42ster war gekommen und gegangen, so wie der 43ste kommen und gehen würde und es immer schwieriger würde, neue Rollen zu bekommen.

Sag, was du willst, die Schauspielerei ist kein einfacher Job, und es würde nicht leichter werden. Vielleicht, weil die Regisseure alte Säcke waren, die sich gerne mit jungen Dingern umgaben, vielleicht weil zu viele junge Dinger den gleichen Traum träumten, so wie ich es als junges Ding getan hatte. Wie die Dinge lagen, hatte ich keine Wahl und machte mich nach Altstetten auf, um mir die Rolle anzusehen. Damit fing es an und jetzt kam ich aus der Rolle nicht mehr raus.

Vor allem hatte es eine Präsentation gebraucht. Eine Bestandesaufnahme und viel Gerede. Doch das ging in Ordnung. Schliesslich war die Bürgerliche Partei in der Krise. Da brauchte es Zahlen, Säulen und Grafiken. Und das in grosser Menge. Zwar war es mir nicht leicht gefallen, nachzuvollziehen, was ich als Schauspielerin in diesem Sitzungszimmer sollte, doch würde ich den Tag so oder so bezahlt bekommen. Als mein Foto aus dem Artikel an die Wand des Sitzungszimmers projieziert wurde, weckte es mich etwas, einen Reim auf die ganze Sache konnte ich mir aber noch immer nicht machen.

Der Chef der Bürgerlichen, Karl Kern, war ein fetter Glatzkopf, der schon immer älter ausgesehen hatte, als er war. Inzwischen hatte er sich daran gewöhnt und genoss einfach seine Macht. Der Parteivorsitzende hatte einen Sidekick, der mir Couverts zuschob und für die Details zuständig war. Unterdessen dämmerte langsam der Abend über Altstetten. Der kleine Mann sah den Moment für seinen grossen Auftritt gekommen. Ganz der geübte Fischer warf er den Köder aus, der Sidekick schob mir das Couvert mit der Zahl rüber, die hoch, sehr hoch war und damit hatte ich die Rolle bekommen.

Die Bürgerliche Partei schickte mich im Kreis drei in den Wahlkampf. Eingerahmt von zwei Krawattentypen starrte ich plötzlich von den Zürcher Plakatwänden herunter. Ich trug ein Deux Pièce und sah sehr geschäftsmässig aus. Die Partei hatte meinen Lebenslauf angepasst. Zum Leidwesen von Karl Kern und seinen Spiessgesellen war Schauspielerin zwar immer noch ein Punkt auf meinem CV, gleichzeitig jedoch war ich jetzt auch Unternehmerin und hatte verschiedene Firmen gegründet und geführt. Selbstverständlich wurde ich plötzlich auch patriotisch und bodenständig. Da Partei hatte mein Leben ziemlich durchleuchtet und glücklicherweise hatten es meine Eskapaden nicht in die Presse geschafft. Dazu war ich als Schauspielerin einfach nicht bekannt genug gewesen. Aber über die Abende bei einem Gastspiel in Paris hätte die Presse einiges berichten können. Schliesslich war Gérard Dépardieu auch dagewesen und dann ging es immer hoch zu und her.

Wie gesagt, das Leben als Schauspielerin ist nicht leicht. Klar, die Rolle war auf einen Wahlkampf von ein paar Wochen ausgelegt gewesen. Die Bürgerliche Partei der Schweiz hatte das Stadtpräsidium gar nicht erobern wollen. Karl Kern hatte es an jenem Abend in Altstetten so erklärt: «Sehen Sie, Frau Schneider, gerade hier in Zürich hat unsere Partei den Ruf, etwas altbacken zu sein. Man wirft uns Filz vor, nur weil unsere Exponenten erfolgreich und wohlhabend sind. Mit Ihnen wollen wir unser Image korrigieren.»

Der Typ mit den Couverts erkundigte sich, ob er den Teil der Präsentation mit der Wählerdemographie nochmals auf die Wand projezieren sollte. Ich sag’s dir, das Geld sah gut aus. Ich sag dir, da konnte ich nicht widerstehen und letztlich überlegte ich nicht lange. Nach langen Stunden in dem gemieteten Konferenzraum klopfte sich der Parteivorstand nach meiner Zusage endlich auf die Schulter. Sie gaben mir zu verstehen, dass sie erfreut über mein Engagement seien und das ich nun gehen könne. Leicht, sich vorzustellen, wie sie sich irgendwo in einem noblen Restaurant bei Bier und Wein noch weiter gegenseitig gratulieren würden.

Heute taten sie das nicht mehr. Die Sache war ziemlich in die Hose gegangen, dachte ich während ich auf dem Trottoir vor dem Haus eine rauchte und auf den Chauffeur wartete, der mich zum Stadthaus fahren würde. Der Nachteil an diesem Job war, tagsüber konnte ich nicht qualmen wie ein Schlot, da ich sonst für die Öffentlichkeit ein schlechtes Vorbild darstellen würde.

Mit dem Auswendiglernen hatte ich noch nie Mühe gehabt. Und für meinen Wahlkampf musste ich viel auswendiglernen, da ich mich in der lokalen Politik nicht besonders gut auskannte und mit der Bürgerlichen Partei gar nichts am Hut hatte. Wäre ich vor der Sache hier politisch gewesen, so hätte ich Bäume umarmt, die Atomkraftwerke abgestellt und endlich den armen Leuten geholfen. Aber eben, ich war nicht politisch gewesen. Die Bürgerliche Partei stellte mir für jede Diskussion und jeden Auftritt ein Skript zur Verfügung. Sie liessen mich nicht einmal ungebrieft zum Kaninchenzüchterverband sprechen. Einmal als ich zu einem Podium des Quartiervereins sollte, der mit der Stadtverwaltung darüber stritt, wohin die Bushaltestelle verlegt werden sollte, fragte mich Karl Kern, der mich an der kurzen Leine führte, ob ich eigentlich «doof» sei, da ich einfach nicht verstehen konnte, worüber sich die Leute eigentlich einen Kopf machten. Immerhin bekamen sie eine neue Busstation.

Hinter meinem Rücken tuschelten die Vorstandsfritzen viel über mich. Aber ich sag’s doch, als Schauspielerin bist du das gewohnt. Neidische Kollegen, Regisseure, die dich anbrüllen, nur weil sie keinen Parkplatz vor dem Theater gefunden haben. Am Anfang, weinst du, weil du noch jung und ehrgeizig bist. Später weinst du, weil es dir schwer fällt zu glauben, dass es immer das Gleiche sein soll. Am Ende weinst du, weil dich niemand mehr anschreit, weil niemand mehr neidisch ist und weil du einfach mehr und mehr in Vergessenheit gerätst und du die Miete nicht mehr bezahlen kannst.

Wie geplant, sah es die ersten sechs Wochen schlecht für mich aus. Die jungen Urbanen setzten mir und der Partei ziemlich stark zu: Unser Programm sei veraltet, die Bürgerliche Partei hätte keine Lösung für die Probleme der Stadt und schliesslich sei mein politischer Leistungsausweis ebenfalls kein besonderer. Mein Gegenkandidat hiess Kevin Erstfeld. Modern unmodern rannte er mir bei Anlässen hinterher wie ein Hund, nur um mich bei öffentlichen Diskussionen gnadenlos fertigzumachen.

Zur Wahl standen gesamthaft acht Kandidaten. Die Meisten einigermassen seriös. Ausser eben der urbane und selten rasierte Kevin und meine Wenigkeit. Ich sagte Karl Kern, er müsse mich besser vorbereiten, es könne doch nicht sein, dass es jedes Mal Schlagzeilen gab, weil ich etwas nicht wusste. Mein grösster Fehltritt blieb die Geschichte rund um die Planung des neuen Fussballstadions. Irgendwie war mir schon bewusst gewesen, dass in Zürich Fussball gespielt wurde. Irgendwo. Von irgendwem. Schliesslich mussten die Kinder ja auch etwas machen. Danach gefragt, wie ich es mit dem neuen Stadion halten würde und ob es die Stadt mitfinanzieren solle, eierte ich ahnungslos herum und sagte, es gebe einiges, was für ein neues Stadion spräche, aber es gebe auch einiges, was dagegen spreche.

Der urbane Kevin flippte aus. Mit rotem Kopf brüllte er in den Saal, in dem dummerweise auch ein Journalist des Tages Anzeigers sass: «Das ist typisch für diese Partei, sie schicken jemanden, der keine Ahnung hat, was in der Stadt vorgeht, was die Stadt beschäftigt.»

Die Zeitung zitierte weiter sorgfältig, wie er mich als arrogant, ahnungslos und amoralisch bezeichnete. Plötzlich genoss der Kampf ums Stadtpräsidium mehr Aufmerksamkeit. Der unrasierte Kevin wurde in Talk Shows eingeladen, in denen er es zu seiner Mission machte, mich und meine Partei anzugreifen.

Es war nicht so, dass die jungen Urbanen, die nicht mehr sehr jung waren, unrecht hatten. Die Bürgerliche Partei war rückständig. Ihre konservative Ausrichtung und die Worthülsen, wie «bodenständig» und «liberal» oder dem Spruch: «Freiheit statt Vorschriften» schienen wir tatsächlich nicht voll auf der Höhe der Zeit. Je besser ich die Partei kennenlernte, umso mehr erschien es mir, dass wir die Globalisierung mit nostalgischen Vaterlandssprüchen rückgängig machen wollten. Wie gesagt, ich konnte ganz gut auswendiglernen, dazu hatte ich an unzähligen langweiligen Abenden, an Parteianlässen, Apéros und Diskussionen die Gelegenheit die ganzen politischen Sprüche kennenzulernen. Keine einfache Geschichte, ich sage es dir. Einzig der Gedanke an meine Miete hielt mich bei der Stange.

Je mehr mich Kevin niedermachte, umso interessanter wurde ich für die Presse. Bald sass ich auch in Talk Shows. Wieder etwas, was ich gewohnt war. Dazu kannte ich einige grundlegende Regeln der Kommunikation, da ich mich unzähligen Produzenten von Werbespots, Filmen oder Theatern hatte verkaufen müssen. So liess ich mich nie provozieren. Und ich liess mich vor laufenden Kameras nie aufs Glatteis führen. In meinen Interviews blieb ich äusserst vage. Ich betonte stets die Schönheit Zürichs, was für eine tolle Metropole die Limmatstadt doch sei, die auch wirtschaftlich weltweit von Bedeutung sei. Solchen Bockmist halt.

Auf konkrete Fragen angesprochen, blieb ich ebenfalls unverbindlich. Gefragt, ob ich es wichtig fände, dass die Polizei Bodycams bekomme, meinte ich, es sei besser die Versuche in anderen Städten abzuwarten, aber am Ende sei es Sache des Departementsvorstehers. Konsequent war ich bei der Frauenförderung und bei den Geldern für die Schulen. Da waren meine Antworten ja und ja, ich würde mich dafür einsetzen.

Schliesslich wurde ich im nationalen Sender auf den heissen Stuhl gesetzt, da der urbane Kevin meine Ahnungslosigkeit als skandalös bezeichnet hatte und er glaube einfach, dass ich schlicht zu doof für das Amt der Stadtpräsidentin sei, auch wenn er mein Lächeln möge. Parteichef Karl Kern regte sich fürchterlich auf, doch der Mann hatte eigentlich recht. Ich war ein Grüss-August, den engagiert hate, um jünger, dynamischer zu wirken. Das drohte schiefzugehen. Am Ende ging es schief, aber anders als alle dachten.

Ich sass also im Fernsehstudio, sass auf dem heissen Stuhl. Und ja, ich lächelte und wie ich lächelte. Der David Bowie des nationalen Senders versuchte mich zu provozieren, fragte mich, ob ich Kevin wegen seiner Beleidigung anzeigen würde. Da war eine Gelegenheit und ich ergriff sie, ich lächelte so hell ich konnte und fragte zurück: «Sehen Sie, das würde niemanden weiterbringen. Und das ist es doch, was ich will. Zürich weiterbringen. Wenn Herr Erstfeld meint, es hilft der Stadt, wenn er mich angreift, so soll er das machen.»

David Bowie blickte mich ernst an und fragte nach: «Frau Schneider, das kann doch nicht leicht für Sie sein, wenn Sie so angegriffen und als <dumm> bezeichnet werden, ich stelle mir vor, das ist nicht einfach?»

«Sehen Sie, meine Eltern haben mich gelehrt, es sei besser für etwas zu sein, als gegen etwas. Wir von der Bürgerlichen Partei stehen für Werte ein. Wir lassen uns nicht so leicht vom Weg abbringen.»

Da müsse er mich doch nach diesen Werten fragen. «Gute Frage», sagte ich, denn ich kannte die Werte ja auswendig, aber ich entschloss mich, <die gute Frage> zu ignorieren und stattdessen von einem <lebenswerten Zürich> zu schwadronieren, einer Stadt, die für alle da sein müsse. So schwer fiel mir das auch gar nicht, denn irgendwie wünschte ich mir das ja. Und ich brachte es noch dicker.

Ich erzählte von meinen Grosseltern, die arme Metzger gewesen seien und sich hochgearbeitet hätten und der grossen Chance für meinen Vater, der hier hatte Jura studieren können, usw, usf. David Bowie sah mich traurig an. Ich wusste, ich war auf dem richtigen Weg. Je mehr er versuchte, mich auszuquetschen, umso mehr erzählte ich ihm von meiner Grossmutter, von Sonntagsausflügen und lachenden Kindern in den Quartierstrassen. Unterdessen glaubte der Moderator wohl auch, ich sei bescheuert.

Auf dem heissen Stuhl schaffte ich den Durchbruch. Ich galt plötzlich als «selbstbewuste, authentische, politische Hoffnung», die sich nicht beirren liess. Es mangle mir an Visionen schrieben die Kommentatoren, aber dafür attestierten sie mir «Charakter». Einer meinte sogar, dass sei genau das was Zürich jetzt brauche. Eine Stadtpräsidentin, die «Charakter» mitbrächte. Dank Kevin und den Jungen Urbanen hatte sich der Wind gedreht. Ich war jetzt ein Star und war auf den Plakaten nur noch alleine abgebildet.

Sechs Wochen vor der Wahl entschuldigte sich Karl Kern im Namen des Vorstandes der Bürgerlichen Partei dafür, dass er mich «doof» genannt hatte. Scheinbar lag ich auf dem «guten» dritten Platz. Gleich hinter den beiden bekannten und wählbaren Kandidaten, die sogar politische Erfahrung aufweisen konnten. Obwohl ich mich noch einige Male blamierte, zum Beispiel, weil ich nicht wusste, wieviel Zürcher Stadtkreise es gab (es waren zwölf, obwohl es 22 Quartiere gab). Schlimmer nur war jener Moment, als ich nicht wusste, dass die Stadtpräsidentin die Sitzungen des Stadtrates würde leiten musste. Vielleicht waren es diese Blamagen, die verhinderten, dass die Partei an meine Chance gewählt zu werden glaubte. Zwar besuchten wir nach wie vor viele Veranstaltungen, doch gleichzeitig war die Luft irgendwie draussen und der Vorstand gratulierte sich selbst dazu, die Partei erfolgreich verjüngt zu haben. Öffentlich sprach Karl Kern schon wieder viel mehr von den nationalen Parlamentswahlen und wich den Fragen nach dem Stadtpräsidium geschickt aus. Mehrmals sprach er davon, dass man einer jüngeren Kandidatin eine Chance gegeben hatte und das die Partei damit Mut und Engagement bewiesen hatte. Kurz gesagt, der Vorstand war stolz auf sich und hatte alles gut gemacht und das war das Wichtigste.

Das Amt hatte seine Vorteile, dachte ich und warf die Zigarette weg, bevor ich in die städtische Limousine stieg, um zum Stadthaus zu fahren. Meine  günstige Wohnung an der Engelgasse hatte ich aufgeben müssen. Zu wenig repräsentativ. Dazu wohnten im Haus Dutzende von alternativen langhaarigen Freaks, die wirklich nicht zur bürgerlichen Partei passten. Darum hauste ich jetzt in einem schuhschachtelähnlichen Haus in der nebligen Vorortgemeinde Stallikon. Die Miete zahlte die Partei und die Stadt sorgte dafür, dass ich bequem zur Arbeit kam.

Vielleicht hätte ich nicht soviel trinken sollen. Aber die Partei war nicht zufrieden. Zwar war ich glanzvoll gewählt worden, noch immer konnte ich gut auswendig lernen. Alles kein Problem. Doch die Partei war schon nach einem halben Jahr nicht mehr zufrieden. Inzwischen waren es weniger die Fettnäpfchen, in die ich aufgrund meiner politischen Unwissenheit immer wieder trampelte, die den Parteipräsidenten Karl Kern störten, sondern vielmehr meine mangelnde Begeisterung für die Bürgerliche Partei. Zudem entdeckte ich, dass im Politbetrieb völlige Ahnungslosigkeit ein Geschenk war. Klar, ich war nur eine Schauspielerin und da war ich es gewöhnt, dass weder Schauspielkollegen noch Regisseure je ernst nahmen, was man sagte.

Als Stadtpräsidentin war das ganz anders. Zwar wurden meine Auftritte als «unverbraucht» und «erfrischend» beschrieben und ich konnte mich vor Interviewanfragen kaum retten. Schon nach wenigen Monaten wurde ich von den einen als zukünftige Bundesrätin gehandelt, während mich die  Hardliner der Partei in Kommentaren schon als «kommunistische Verräterin» einstuften, die mit den Linken gemeinsame Sache machten.

In meinem völlig überdimensionierten und etwas gruselig eingerichteten Büro wartete schon Karl Kern. Ich war spät, hatte mir aber trotzdem hinter dem Haus noch eine Zigarette gegönnt. Karl wirkte geschniegelt und gebügelt. Die Farbe der Politsaison schien grau, seine Glatze leuchtete heller denn je und passte zum Pochette in der Brusttasche, in rosa gehalten, verspielte Eleganz ausstrahlen sollte. Es fiel trotzdem nicht schwer zu spüren, dass die Lage ernst war, ziemlich ernst.

«Aileen, die Lage ist ernst», begrüsste er mich, noch während ich die drei Meilen hinter meinen überdimensionierten Schreibtisch zurücklegen musste. Küsschen, Küsschen und ich huschte hinter den Tisch und versank in dem seltsamen Ledersessel.

«Keine Sorge, Karl, wir bekommen das in den Griff», meinte ich noch etwas betäubt von seinem widerlich süssen After-Shave.

«Wir müssen über deinen Rücktritt nachdenken, der Think Tank der Partei arbeitet daran. Wir müssen aus der Geschichte raus.»

«Das stimmt, das stimmt», sagte ich hilflos und wusste aber unterdessen, dass es nicht ganz so einfach sein würde. Schliesslich hockte ich immer wieder in diesen Schulen rum, besuchte Menschen im Altersheim und die Kinder und die Alten, überhaupt die Leute, sie machten mich darauf aufmerksam, dass ich gewählt worden war und ihnen nicht einfach den Rücken kehren konnte.

«Es ist besser für die Partei, wenn du aufhörst, wir haben dich bezahlt. Es ist eine Rolle, erinnerst du dich», zwar hatte ich noch immer keine Ahnung von der Politik, aber gleichzeitig fiel es mir schwer, mein Publikum zu enttäuschen.

«Du könntest Krebs bekommen, Brust-Krebs, so könntest du uns vielleicht in einigen Jahren nochmals helfen. Aber du musst schon verstehen, du bist überhaupt nicht auf unserer politischen Linie. Wir müssen einfach noch den richtigen Zeitpunkt finden. Allerdings hat der Vorstand zugestimmt, dass wir eine äusserst grosszügige Lösung finden könnten. Auch im Haus könntest du vielleicht noch etwas länger bleiben». In der bürgerlichen Partei stand man darauf Zettel über Tische zu schieben. Der Betrag auf dem Papier war wirklich äusserst grosszügig.

Vielleicht hätte ich nicht soviel trinken sollen. Aber ich hatte gesungen. Gesungen. Auf einem Quartierfest. Und da war mir ein Gedanke gekommen. Jazz. Ich brauchte nur noch eine Band.

Ein halbes Jahr nach meinem Rücktritt zog ich zurück in die Genossenschaftswohnung in der Engelgasse. Als musikalischen Direktor hatte ich Minu Cinelu angeheuert und wir hatten einige Auftritte in der französischen Provinz. Viel hatte ich nicht erwartet. Aber mittelalte Schauspielerinnen, sie mögen es zu singen. Und sie singen Jazz. In einem kleinen Land darfst du nicht viel erwarten. Mein 44ster Geburtstag war gekommen und gegangen. Und ich hatte eine tolle Band. Es gab zu viele Sängerinnen, zu viele Schauspielerinnen. Aber nur ich hatte die Rolle als Stadtpräsidentin von Zürich gespielt. Und es war keine schlechte Rolle gewesen.

Foto: Stadt Zürich

  

Gefällt dir dieser Beitrag?

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Autor: Andy Strässle

Andy Strässle umarmt Bäume, mag Corinne Mauch und verleugnet seine Wurzeln: Kein Wunder, wenn man aus Blätzbums stammt. Würde gerne saufen können wie Hemingway, hat aber immerhin ein paar Essays über den Mann zu stande gebracht. Sein musikalischer Geschmack ist unaussprechlich, von Kunst versteht er auch nichts und letztlich gelingt es ihm immer seltener sich in die intellektuelle Pose zu werfen. Der innere Bankrott erscheint ihm als die feste Währung auf der das gegenwärtige Denken aufgebaut ist und darum erschreckt es ihn nicht als Journalist sein Geld zu verdienen.

Fier Fesche Feiern mit Hausi für Basel

Hologramm-Tour: Zwei Mal sterben mit Amy Whinehouse