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Disciplina Consequenzia und die Aufgeblasenheit des Seins

Was ich im Moment am meisten vermisse, vermisse ich eigentlich immer. Aber wie bei so vielem fungiert das Virus als Vergrößerungsglas. Es erschafft nichts Neues, es macht nur das schon Dagewesene besonders sichtbar. Was ich im Moment also noch mehr vermisse als sonst, ist der Humor. Und damit meine ich nicht Klopapier- und Mundschutz-Witze, obwohl ich zugeben muss, dass ich die zuweilen sehr lustig finde. Da mein Humor-Profil aber, zumindest teilweise, auf einen ca. 80 jährigen Stammtisch-Opa hindeutet, bin ich kein Maßstab. – Ich finde auch „Kommt ne Frau beim Arzt“ Witze zuweilen sehr lustig.

Der Humor, mit dem wir versuchen, mit der momentanen Situation umzugehen, geht aber immer auf Kosten anderer und unterstreicht die eigene Überlegenheit (man selbst würde niemals Klopapier hamstern und hat ein Gesicht, das unverhüllt eindeutig herzeigbar ist). Was mir fehlt, ist das Lachen können über uns selbst.

In einem alten Interview mit Jakob Hein lese ich: „Guter Humor will der Nadelstich in der Aufgeblasenheit des Daseins sein.“ Und was könnte unser Dasein im Moment besser beschreiben als „aufgeblasen“? Aus Ermangelung an narzisstischer Zufuhr, weil wir gerade nicht gebraucht werden, einfach nur zu Hause bleiben und unsere eigenen Bedürfnisse und Launen zu Gunsten des Gemeinwohls mal nicht so wichtig nehmen sollen, blasen wir unsere Bedeutung bis zum Platzen auf: Plötzlich will jeder systemrelevant sein und unersetzbar. Plötzlich leidet jeder ganz besonders unter der Situation. Natürlich ist ein bloßer Mangel an Selbstironie, im Gegensatz zu den Totalausfällen von Fernsehköchen und Schnulzensängern, eine verhältnismäßig harmlose Reaktion auf mangelnde Beachtung. (Wobei es zu diesen nicht nur peinlichen, sondern auch gefährlichen Auswüchsen gar nicht kommen würde, wenn die Betreffenden in der Lage wären, über sich selbst zu lachen.) Bestimmt ist es zu viel verlangt, dass Menschen, die diese Fähigkeit schon im Normalzustand nicht besitzen, sie in einer Ausnahmesituation plötzlich entwickeln sollen. Und selbstverständlich, es ist nicht lustig, dass Menschen krank sind oder sogar sterben, dass Existenzen in Gefahr sind oder zerstört werden (bezeichnend übrigens, dass es für die Definition, um welche Existenz, bzw. um welchen Teil einer Existenz es sich handelt, den Zusatz „beruflich“ gar nicht mehr braucht). Aber komisch verhalten wir uns trotzdem, und es könnte nicht schaden, sich dessen auch bewusst zu sein.

Bei Humor geht es am Ende immer darum, dass der Mensch sterblich ist.“ sagt Hein weiter. Und wer ist sterblich? Die dämlichen, analfixierten Klopapier-Hamsterer? Die Aluhut-Träger und Reptiloiden-Schwafler? Donald Trump? Ja, sie alle. Und ich! Ich bin sterblich, und guter Humor ist ohne dieses Bewusstsein nicht möglich. Alles andere ist in besten Fall kluge Satire, im Schlechtesten einfach nur Schadenfreude und Selbsterhöhung.

Guter Humor hat immer auch mit Distanz in Kombination mit einem grundsätzlichen Wohlwollen und Verständnis zu tun. Welche Haltung sich selbst gegenüber wäre gesünder, sozialverträglicher und erkenntnisorientierter? Humor hilft uns, neue Perspektiven zu gewinnen und dadurch auf neue Lösungen zu kommen. Und da wäre es ausnahmsweise mal ganz heilsam, wir würden das erstmal für uns selbst und nicht für andere tun.

Ich kann ein ziemlich anstrengender Mensch sein, und ich würde behaupten, wenn ich nicht über mich selbst lachen könnte, wäre ich ein unerträglicher. Dem Humor verdanke ich höchstwahrscheinlich, dass mich der tollste Mann der Welt nicht schon längst an einer Autobahn-Raststätte ausgesetzt hat. Einmal, während eines relativ heftigen Streits, erhob er seine Stimme (was ein absolutes Alarmzeichen ist, da er eigentlich nicht nur der tollste, sondern auch der coolste Mann der Welt ist), um mir zu sagen, dass ich manchmal wirklich extrem anstrengend sein könne. Ich brüllte (was kein absolutes Alarmzeichen ist, da ich definitiv nicht die coolste Frau der Welt bin), mit der Empörung einer zu Unrecht Beschuldigten, Tränen der Wut in den Augen: „Du hast ja keine Ahnung, du musst ja nicht die ganze Zeit mit mir zusammen sein! Ich ertrage das schon ein ganzes Leben lang, 24 Stunden, ohne Pause! DAS ist anstrengend!“ Nach 3 verdutzten Sekunden, in denen wir uns in die Augen sahen, fingen wir beide an zu lachen und hörten so schnell nicht mehr auf. (Lachend, zumindest aber mit Humor Sex haben ist übrigens etwas, das ich wärmstens empfehlen möchte!) Der tollste Mann der Welt hat eben auch Humor, sonst wäre er ja nicht der tollste Mann der Welt.

Ein Running-Gag von mir selbst über mich selbst sind zwei Vornamen, die ich mir gegeben habe und die immer dann zum Einsatz kommen, wenn ich mit meinen hehren Vorsätzen mal wieder an der Realität meines triebgesteuerten Wesens scheitere. Wenn ich zum Beispiel am Tag davor im Brustton der Überzeugung verkündet habe: „Ich trinke jetzt in nächster Zeit mal keinen Alkohol und mache Low Carb!“, kann es gut sein, dass ich nach einem Tag der Entbehrungen die erlösenden Worte spreche: „Disciplina Consequenzia will jetzt sofort ein Bier und einen Burger essen gehen!“ Ich muss zugeben, dass ich das selbst ein bisschen putzig und ziemlich sympathisch finde (sonst würde ich das ja hier auch nicht öffentlich preisgeben), was beweist, dass Selbsterhöhung nicht nur auf Kosten anderer möglich ist.

Iris Boss lebt und arbeitet in Berlin. Dort studierte sie Schauspiel und verließ die Universität der Künste mit einem Diplom mit Auszeichnung. 2001 und 2002 wurde sie mit einem Stipendium für Schauspielnachwuchs der Ernst Göhner Stiftung ausgezeichnet.
Seitdem ist sie auf allen Feldern des Schauspielerberufs tätig. Neben der Arbeit auf der Bühne ( u.a. Volksbühne Berlin, Junges Theater Göttingen, Konzertdirektion Landgraf ), steht sie für Film- und Fernsehproduktionen vor der Kamera, ist in Hörspielen ( u.a. RBB ) zu hören, tritt mit Lesungen auf und arbeitet als Moderatorin und Synchronsprecherin.

In ihrem Blog „bossbloggt“ schreibt sie über ihre Beobachtungen und Gedanken auf langen Theatertourneen durch die deutschsprachige Provinz und in ihrem Berliner Alltag.

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Autor: Gastautor

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