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Welcher Blick ist dir von mir geblieben? – eine Romantisierung des Blickes

Eine Nahaufnahme: Wir sehen in die grossen dunklen Augen einer jungen Frau. Wir scheinen uns in einem Raum zu befinden – das Licht, welches von hinten durch ein rundes Fenster scheint, lässt ihre rötlichen Haare schimmern. Ihr intensiver Blick gilt einem Mann, den wir nur von hinten sehen. „Wieso siehst du mich so an?“, fragt sie ihn.

Diese Szene stammt aus dem Science-Fiction Film „Solaris“ von Andrei Tarkowski aus dem Jahr 1977. Die Frau in der beschriebenen Szene ist eine reine Illusion. Sie ist die menschgewordene Erinnerung an die verstorbene Frau des Pychologen Kris Kelvin, der den Planeten Solaris bereist, um diesen zu erforschen. Was in dieser Nahaufnahme besonders auffällt, ist die Intensität ihres Blickes – ihre sehnsuchtsvollen Augen dominieren das Bild. Es ist nicht nur die äussere Ähnlichkeit zu seiner Frau, die Kris Kelvin schier in den Wahnsinn zu treiben scheint – es ist das vertraute Gefühl in der Art und Weise, wie sie ihn anblickt.

Mit einem Blick alles zeigen

Denn Blicke können totgeglaubte Erinnerungen zum Leben erwecken und konfrontieren uns mit Gefühlen, die wir manchmal lieber nicht fühlen würden. In ihnen lässt sich tiefer Schmerz erkennen, genauso wie die pure Freude und die kalte Ablehnung. Ein intensiv ausgetauschter Blick zeigt uns aber nicht nur ein Bruchstück der Gefühle unseres Gegenübers, so lässt er uns ebenfalls direkt in unsere eigenen Seelen blicken.

Unsere Augen offenbaren anderen Menschen einen Einblick in unser Innerstes – mit ihnen lässt es sich aber auch sehr gut kokettieren. Wer konnte das besser als Audrey Hepburn mit ihren tiefbraunen Rehaugen? Trotz ihrer zierlichen Erscheinung besass sie die Fähigkeit, nur mit einem einzigen lachenden Augenaufschlag einen Raum für sich einzunehmen. In ihren Filmen dominierten neben ihrem charmanten Wesen vor allem ihre ausdrucksstarken Augen. Wenn ich mir Audrey Hepburn heute mit einer Schutzmaske in einem Zug sitzend vorstelle, wäre das wohl nicht anders. Ihr Gesicht wäre zur Hälfte bedeckt, aber ihre Augen würden für sich sprechen.

Die Unnahbarkeit eines verbotenen Blickes

Masken sind in Zeiten von Corona in aller Munde, haben zumal auch einen langen kulturgeschichtlichen Hintergrund. Und dabei denke ich nicht nur an deren Nutzung als rituelle Gegenstände in indigenen Stämmen auf der ganzen Welt. Vielmehr denke ich auch hier an einen Film: „Marie Antoinette“ von Sofia Coppola aus dem Jahr 2006. Darin verkörpert Kirsten Dunst die umstrittene französische Königin, die um 1770 das Schloss von Versaille unsicher machte. Wir befinden uns also in der opulenten Zeit des Rokokos und Maskenbälle waren bei Hofe sehr beliebt. Im Coppolas Film trägt Marie Antoinette zahlreiche extravaganten Masken – eine davon mutet aber besonders aussergewöhnlich an. Die Königin trägt ein schwarzes Ballkleid und eine passende schwarze Maske, die nur aus einem Streifen schwarzen Tülls besteht, welches nur ihre Augen bedeckt. Während die bekannten, mit schwungvollen Ornamenten verzierten und mit Gold besetzten Modelle aus dieser Zeit die Augen umranden, um so den Fokus auf diese zu setzen, will diese Maske scheinbar das Gegenteil erreichen. Aber unser Interesse an den Augen der Trägerin wird dadurch umso mehr geweckt – gerade, weil sie durch einen hauchdünnen Streifen Stoff verdeckt sind. Ich hätte ganz nahe an Marie Antoinette herantreten müssen, um ihre Augen zu erkennen. Und genau das macht die Faszination eines Blickes aus – ich will ihn um jeden Preis erhaschen. Fehlt der Augenkontakt, fehlt auch die Nahbarkeit eines Menschen.

Augen als Leinwand für Kunst und Illusion

In der Kunst des Drags wiederum sind die Augen wichtiger Teil einer Illusion. Die Künstler erschaffen mithilfe von Schminke, verrückten oder eleganten Kleidern, mal ausladenden, mal farbenfrohen Perücken und viel Glitzer diverse Traumwelten. Dabei überdecken sie ihre Augenbrauen mit einem speziellen Kleber und versetzen die Brauen weiter nach oben, um die Augen zu vergrössern. Sie modellieren ihr Gesicht, erschaffen mit ein paar Pinselstrichen eine neue Persönlichkeit. Die kunstvoll geschminkten Augen einer Drag Queen haben mit der uns bekannten Realität, gängigen Schönheitsvorstellungen oder konventionellen Geschlechterrollen oft kaum mehr etwas zu tun. Sie fungieren als Leinwand, die aufwändig und kunstvoll bespielt werden – wir blicken in die weit aufgerissenen Augen eines exotischen Mensch-Tier-Hybriden oder in die opulent geschminkten, verzerrten Augen einer ausserirdisch anmutenden, jedoch durchaus erotischen Gestalt. So werden die Augen zum Werkzeug, um damit für einen kurzen Moment eine perfekte Illusion auf die Gesichter der Künstler und schlussendlich in die Köpfe der Betrachter*innen zu zaubern.

Die Macht des Blickes

Augen verführen, sie erschaffen Illusionen, wecken Begehren und Sehnsüchte. Augen haben die Macht, uns ganz in ihren Bann zu ziehen. Der Rest des Gesichtes verschwimmt, dient dann nur noch als Requisite. Auch wenn durch die Schutzmasken, die unser aktuelles Gesellschaftsbild dominieren, ein grosser Teil der Mimik und damit die Lesbarkeit eines Menschen zu verschwinden scheint – ein Blick in die Augen beantwortet dabei viele Fragen. Denn was nutzt uns ein freundliches Lächeln im öffentlichen Verkehr, wenn die Augen nicht mitlachen?

Die Sprache der Augen ist vielseitig – ich kann dich anstarren, dir zuzwinkern, durch dich hindurchsehen, deinen Schmerz, deine Freude oder deine Trauer sehen, ich kann deine glasigen Augen an einem frühen Morgen deuten und deinen gedankenlosen Blick auffangen, wenn du in die Luft starrst. Ich kann deinen neugierigen Blick auf mir spüren, ruhend. Ich kann dir einen Blick zuwerfen und du hast die Freiheit, ihn aufzufangen oder ihn gleich wieder wegzuwerfen. Ich kann meiner Frage, ob der Sitz neben dir noch frei ist, einen fragenden Blick hinzufügen. Ich kann meine Augen rollen, wenn mir nicht gefällt, was du sagst. Oder misstrauisch meine Augenbrauen nach oben ziehen, wenn ich dir nicht glaube. Und du kannst deine Augen weit aufreissen, wenn ich dich zutiefst schockiere.

Flirten in Zeiten der Maskenpflicht

Stellen wir uns vor, wir würden in Zukunft überall Masken tragen. So würde ich in einer schummrigen Bar sitzen und ein Mann würde in mein Blickfeld fallen. Und alles, was ich zum Flirten zur Verfügung habe, ist die Intensität meines Blickes. Ich würde natürlich beim abendlichen Make-Up meine Augen besonders betonen, um den Augenaufschlag umso spektakulärer wirken zu lassen. Denn die Sinnlichkeit eines roten Lippenstiftes würde der Vergangenheit angehören. Wenn ich früher meine Lippen dazu eingesetzt habe, um Interesse zu signalisieren, würde ich nun seine Aufmerksamkeit mit der Kraft meiner Augen zu erhaschen versuchen. Und wir würden uns lange gegenseitig beobachten, immer mal wieder verlegen wegschauen, um uns dann wieder tief in die Augen zu blicken. Und ich würde inbrünstig hoffen, dass mein Auserwählter nicht kurzsichtig ist. Eine angeschlagene Brille würde die Situation nämlich erschweren. (Gedankeneinschub: Würden in Zukunft deswegen mehr Kontaktlinsen gekauft oder Augen gelasert? Würde die Maske die Brille als modisches Accessoire ersetzen? Würde sich gar unsere Sehkraft mit der Zeit dadurch verbessern?)

Irgendwann würde ich also an die Bar schreiten und ihn ansprechen. Auch, wenn er meine Worte hören würde, sähe er nur meine Augen sprechen. Wie würden sich wohl unsere Verbindungen dadurch verändern? Würden sie tiefer werden? Wären wir zurückhaltender, ja sogar schüchterner, da wir unsere Mäuler nicht mehr soweit aufreissen könnten?

Blicken wir genauer hin!

Die Sprache der Augen gerät in Vergessenheit – wir verlassen uns nur noch auf Worte, auf einen gespitzten Mund oder ein zähnefletschendes Lachen. Worte aber können gelogen, ein Lächeln gefälscht sein – ein einziger Blick jedoch verrät alles. Angesichts der aktuellen Zustände wäre genau jetzt die richtige Zeit dafür, uns mehr in die Augen zu blicken und dabei richtig hinzusehen. Auch, wenn wir das wohl wieder neu erlenen müssen, haben wir in den letzten Monaten unsere Blicke doch sehr obsessiv auf Bildschirme gerichtet. Einen Blick zu lesen erfordert Mut und eine tiefergehende Auseinandersetzung mit den Menschen, denen wir im Alltag begegnen. Auch wenn diese Begegnungen nur einige Sekunden dauern. Schauen wir nun genauer hin?

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Autor: Susanne Grädel

Susanne Antoinette Grädel, wurde am 01.08.1990 in Bern geboren und hat einen Abschluss als Fotografin HF von der F+F Schule für Kunst und Design. Susanne schreibt Gedichte und Belletristik, malt, fotografiert und filmt. Seit über zehn Jahren versucht sie, ihre komplexen Gedanken und ausufernden Gefühle mit Lyrik und Belletristik in die Aussenwelt zu tragen. In ihren Texten untersucht Susanne die Melancholie in alltäglichen, ephemeren Situationen und entdeckt das poetische Potential in abgründigen Gedanken.

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