Gestern Nacht wieder über die Dächer der Stadt geschlichen. Während die Glocken in meinem Kopf gedröhnt haben: Zeitglocken, Feiertagsglocken, Fronleichnamsglocken. Und jedesmal, wenn eine Dächerreihe aufgehört hat, bin ich mit einem mächtigen Satz zur nächsten hinüber gesprungen. Und weiter geschlichen.
Dafür brauche ich nicht viel Kraft.
Denn ich bin leichter als Luft.
Natürlich bin ich unterwegs – durch Dachluken – in so manches Haus eingestiegen, habe ein bisschen Angst und Schrecken verbreitet. Um dann wieder weiterzuziehen. Ich lebe nämlich von der Angst der Menschen in der Nacht. So wie andere von Wasser, Brot oder Alkohol leben. Zum Glück hat mich die Natur prima dafür ausgestattet. Es ist einfach für mich, mein flüchtiges Nahrungsmittel zu erheischen.
Und erst recht im Dunkeln, wenn die Regeln des so genannten Alltags ausser Kraft treten.
Meine grösste Gabe ist meine optische Erscheinung. Denn sie ist nicht definiert. Ich bin nicht blond, nicht schwarz, nicht braun. Ich bin nicht klein, gross, dünn oder dick.
Eigentlich sehe ich gar nicht aus.
Meine Erscheinung entsteht nämlich erst im Auge der Betrachterin, des Betrachters.
Alle, die mich sehen, erblicken genau das, was sie am meisten fürchten. Fragen Sie mich nicht, wie das zugeht. Ich bin einfach so auf diese Welt gekommen. So wie Sie halt dumm, gescheit, schön, hässlich – oder halt so mittel – auf diese Welt gekommen sind.
Wer unter einer Schlangenphobie leidet, wird mich als die fetteste Felsenpython wahrnehmen, die sich ein Mensch nur vorstellen kann. Wer Spinnen nicht ertragen kann, wird in mir eine riesige Vertreterin dieser achtbeinigen Gattung sehen.
Wer den Teufel fürchtet, wird ihm spätestens dann begegnen, wenn er mir nächtens plötzlich und gänzlich unangekündigt in seiner eigenen Wohnung über den Weg läuft. Wer hingegen Angst vor Jesus Christus hat, wird in mir den Gekreuzigten von Golgatha erblicken, komplett blutüberströmt, mit Dornenkrone, Löchern in Händen und Füssen, durch die man durchsehen kann.
Wie durch Schlüssellöcher von Damenzimmern.
Aber meine optische Wirkung ist noch nicht alles. Ich löse auch im Inneren der Menschen unangenehme Dinge aus. Drücke auf Eure blinkenden roten Knöpfe. Dafür muss ich mich überhaupt nicht anstrengen. Bin ich doch einfach derart beschaffen.
Begegnet mir ein Hypochonder, werde ich ihm die schwersten Krankheitsängste bescheren, bis hin zu ausgewachsenen Symptomen, vollkommen real wirkenden Todeskrankheits-Symptomen. Paranoiker erkennen in mir ihre(n) gefährlichsten Verfolger. Ich bin für Dich die zusammenrückenden Wände, die Deiner Platzangst Zucker geben. Ich bin für Dich der Fremde, die Fremde, mit dem Deine Frau, Dein Mann heimlich fickt und dabei Dinge macht, die Du nie bekommen hast; wie es Dir Deine tiefsten Eifersuchtsphantasien schon lange suggerieren.
Ich bin Dein gähnender Abgrund, der Deine Höhenangst bis zum Höhepunkt kitzelt, bin die vergifteten Lebensmittel, die Dir – trotz umsichtiger vorheriger Prüfung und Beschnupperung – die Speisröhre runtergerutscht sind. Und jetzt in Deinen Blutbahnen ihre verheerende Wirkung entfalten, langsam, grausam.
Ich bin der hartnäckige Dreck an Deinen Händen, den Du niemals abwaschen kannst. Auch dann nicht, wenn Du das Wasser extrem heiss machst, mit Kernseife und Sterilium dahinter gehst, Deine Finger mit der Stahlbürste schrubbst.
Bis nur noch die blanken Knöchlein übrigbleiben.
Schon meine Schritte über die Dächer in der Nacht bewirken bei den Schlafenden, die sich unter mir – in ihren eigenen Federbetten – sicher und geborgen wähnen, Albträume, aus denen sie schwitzend, schreiend, nach Luft schnappend erwachen, die ihnen sogar den ganzen nächsten Tag versauen, sich wie dunkle Schatten über Dein Leben legen, schlimmer als noch das mieseste Wetter.
Ich geniesse meine Taten übrigens nicht besonders. Ich bin einfach so geschaffen worden. Keine Ahnung, wer mein Sein auf einer universellen Stufe ermöglicht hat, diese Unwissenheit teile ich mit Euch allen.
Ich bereue meine Taten jedoch auch nicht, denn ich habe noch nie jemandem körperlich wehgetan. Wäre also nicht einmal gesetzlich zu belangen, wenn ich denn einer wäre, der sich unter den Gesetzen der Menschen beugen müsste.
Ich bin schon immer da, für Euch alle da. Seit dem ersten Homo Erectus, ich habe schon die Höhlenbewohner und Pfahlbauer in dunkle Angst und helle Panik versetzt. Ich kann mich nicht daran erinnern, wo ich herkomme. Im Gegensatz zu Euch habe ich keine Eltern, keine Verwandtschaft, keinen Stammbaum. Ich werde nicht älter, nicht schwächer, nicht müder.
Und ich werde wohl auch nicht streben. Bis die letzten von Euch gestorben sind. Vielleicht könntet Ihr mich töten. Wenn Ihr plötzlich keine Angst mehr hättet. Doch soweit wird es nie kommen. Denn es gibt keine Menschen ohne Angst. Die Furcht erst schenkt den Menschen Tiefe.
Die Angst erst verleiht dem Leben sein Profil.
Auch die schlimmsten Femme Fatales, auch die härtesten Macker haben Angst. Spätestens dann, wenn sie nach dem morgendlichen Stuhlgang kurz ins WC schauen…
… um festzustellen, dass sie gerade so einen, zwei Liter Blut geschissen haben.
Mir selbst kann beim Scheissen allerdings nichts derartiges passieren. Denn mein Stuhlgang besteht, wie meine Nahrung, aus jenem flüchtigen Stoff, der aber trotzdem derart beachtliches Gewicht hat auf dieser wundervollen Welt:
A.N.G.S.T.!