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Wahrheit gibt es nicht

Oder: Was ich von meinen Schülern gelernt habe

Ich habe sechs Jahre lang Deutsch unterrichtet. Verschiedene Altersklassen, Stufen, Backgrounds. Die vielen menschlichen Unsicherheiten, Vergangenheiten, Ansichten, Zukunftsvisionen und Eigenheiten, lernten sich immer wieder aneinander anzupassen und ein gemeinsames Ziel zu verfolgen. Die Adaption: ein phänomenales Unterfangen an und für sich. Global gesagt, konnten die Kursteilnehmer wohl von meinem Fachwissen und ich von ihrem blossen Dasein profitieren. Es waren zweifelslos lehrreiche Jahre, die mir immer wieder die Wichtigkeit sich selbst zu hinterfragen vor Augen führten. Ein Erlebnis allerdings, das vor etwa fünf Jahren geschah, begleitet mich bis heute fast jeden Tag.

 

Ich hatte gerade eine kleine Deutschkurs Gruppe von vier Personen als Stellvertretung für eine Schwangere übernommen und sollte die vier Teilnehmer während drei Monaten bis zum nächsthöheren Zertifikat führen, was ihren Aufstieg von Niveau B2 auf C1 bedeutete. So sassen wir zu fünft da: Eine junge Kolumbianerin, die früh geheiratet und ihr Englisch Studium aufgegeben hatte um ihren Mann, der in die Schweiz versetzt worden war zu begleiten. Ein älterer, tunesischer Arzt, der aus seinem Heimatland geflüchtet war um sich hier ein besseres Leben aufzubauen. Eine bildhübsche, scheue junge Russin, die in der Provinz als Kindergärtnerin gearbeitet und der Liebe wegen in die Schweiz geholt worden war. Eine amerikanische Anlageberaterin mittleren Alters, die bei einer Grossbank arbeitete. Die Sprachkenntnisse dieser Klasse waren auf einem guten Niveau, sie war heterogen und zielstrebig, was bedeutete, dass wir gut voran kamen und neben der Prüfungsvorbereitung viel Zeit hatten für Spassiges und Diskussionen. Manchmal über Gelesenes, oft über Persönliches.

Auch wenn der einzige Mann mit seinen angriffigen Aussagen und  immer wieder für Unruhen gesorgt hatte, fühlten sich, so dachte ich, alle wohl und hatten das Bedürfnis sich mitzuteilen. Ich war ein wenig stolz auf mich, denn es war mir gelungen eine intime und entspannte Lernatmosphäre zu schaffen. Trotzdem hatte ich meine Unsicherheiten in Bezug auf Grammatikwissen und Auftreten nicht ablegen können und vermutete, dass sich dies bemerkbar machen könnte.

Wir hatten bis zum letzten Kurstag ein gutes Niveau erreicht. Ich war überzeugt, alle Kursteilnehmer fachlich und persönlich weitergebracht zu haben und ihnen somit eine bessere Zukunft in Aussicht zu stellen. Um mich darüber zu versichern, dass ich auch richtig lag mit meinem subjektiv vernommenen Erfolg und um Verbesserung meinerseits zu ermöglichen, liess ich sie als letzte Übung einen Aufsatz darüber schreiben, wie sie die letzten Monate in der Klasse erlebt haben. Auch ich beteiligte mich daran. Nach der Pause lasen wir einander die Texte vor, welche unterschiedlicher nicht hätten sein können.

Mein Aufsatz las sich etwa so: dankbar für die Offenheit der Kursteilnehmer, sie hätten ihre Herzen geöffnet um die Sprache richtig verinnerlichen zu können, die lustigen Momente, die Frauen gegen Mann Koalition, die Fortschritte und die Rückschläge. Die Kolumbianerin lobte mich in höchsten Tönen, sie habe am liebsten wieder von vorne anfangen wollen, so sehr liebe sie meine Art die Menschen zu begeistern, meine offenen Unterrichtsmethoden, mein Interesse und Wissen und meinen Humor, dass ich ihr die Anfänge in der Schweiz enorm erleichtert habe, sie sei dankbar für alle Kursteilnehmer, sie habe viel Neues dazugelernt, traurig sei sie, dass es vorbei sei und ob sie Privatlektionen bei mir buchen könne. Der tunesische Arzt fand, man hätte die Zeit besser nutzten können, statt über sein Leben zu labern, mehr Zeitungsartikel, weniger Gelaber wäre gut gewesen, manchmal habe er gedacht bei einer Psychologin zu sitzen, die ab und zu unterrichtet und die Gruppe vor allem dazu benutzt ihre eigenen Probleme zu behandeln, er sei eigentlich froh, dass dieses Frauengetratsche vorbei sei (und lachte) (worauf nur ein Augenrollen, begleitet von einem Lächeln, seitens der Kolumbianerin zu vernehmen war, die es aufgegeben hatte mit dem Arzt zu streiten und lieber liebevoll darüber lächelte, wie im übrigen alle anderen auch, ausser der Bankerin). Die Russin blieb kurzangebunden, sie hatte hingeschrieben was sie gedacht hatte schreiben zu müssen, sagte dann, sie habe immer Mühe gehabt ihre Meinung zu sagen und hier gelernt, aus sich heraus zu kommen, sie sei dankbar für die neue Freundin (Kolumbianerin), die sie in der Klasse gefunden habe, ganz unabhängig von ihrem Mann, der im übrigen nicht wirklich erfreut war über unsere Emanzen- Gesprächsthemen, weshalb sie einen weiteren Kurs nicht mehr bei mir besuchen könne, leider, es habe aber grossen Spass gemacht, wie schon lange nichts mehr. Die Bankerin blieb sachlich, zählte alle Pros und Kontras auf, meinte, zu Beginn meine Kompetenz in Frage gestellt zu haben wegen meines Alters, habe aber Dank der Abwechslung im Unterricht grosse Fortschritte gemacht trotz ihres Jobs, der es ihr teilweise unmöglich gemacht habe Hausaufgaben zu erledigen, ein wenig mehr Grammatik wäre gut gewesen, man sollte als Schule besser darauf achten frauenfeindliche Männer nicht in Frauengruppen zu setzen und kulturelle Gegebenheiten bei der Einteilung zu beachten (was der Tunesier zum Glück überhört hatte Dank Smartphone).

Ich war noch nie dermassen erstaunt gewesen wie in diesem Moment. Ein zuhörender Aussenstehender wäre im Leben nicht darauf gekommen, dass es sich bei allen Schilderungen um den gleichen dreimonatigen Deutschkurs handelte. Was von alledem war also richtig? Welche Sicht auf die Realität konnte nun als Wahrheit definiert werden?

Wir hatten in dieser Stunde den Beweis dafür gefunden, dass es keine richtige Sicht, keine Wahrheit in der Wahrnehmung gibt, dass sie viel mehr eine Kombination aus unseren eigenen Stimmungen, Vergangenheiten, Gefühlen, Ideen, Ideologien, Erfahrungen und Ansichten ist.

Die Forschung untersucht mit ausgeklügelten Systemen neurologische Funktionen und wird letztendlich trotzdem nie schlüssig werden über die Gedanken des Menschen, weil das Empfinden des Einzelnen immer ungleich dessen eines Anderen ist. Autoren, Künstler, Politiker, Filmemacher, Musiker – sie alle bemühen sich darum, Bilder zu schaffen, die von einer Menschenmasse gleich aufgefangen werden sollen. Auch wenn sie Profis sind im erzeugen von Wahrheiten, so schaffen sie es trotzdem nicht eine hundert Prozentige Übereinstimmung zu erreichen, weil die Wahrnehmung des Individuums eben einzigartig ist.

Wir Menschen sind vielfältig. So vielfältig ist unser Ermessen. So vielfältig sind unsere Wahrheiten. Die einzige immer richtige Wahrheit in Bezug auf den Menschen scheint zu sein, dass es sie nicht gibt. Es existieren Moral, gesellschaftliche Regeln, Theorien, Lehren, Gesetzt, Ethik, Wahrscheinlichkeitsrechnungen und Wissenschaften. Doch gibt es keine Realität, die für jeden individuell und subjektiv als solche gelten und von jedem anerkannt werden kann.

Seither habe ich die Welt nicht mehr absolut gesehen. Ich habe meine Wahrheit nie wieder als die einzig richtige erachten können. Was mein Leben um ein vielfaches verkomplizierte.

Zwei Monate später erfuhr ich, dass alle Kursteilnehmer die Zertifikatsprüfung bestanden hatten. Wenigstens hatten wir nun zum Trost eine kleine Wahrheit schwarz auf weiss, die sich für uns alle Fünf als universell wahrhaftig herausgestellt hatte.

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Autor: Jelena Keller

Jelena ist von Beruf Journalistin und Sprachlehrerin, Schweizerin serbischer Abstammung. Sie mag lange Texte und langes Grübeln. Sie hat sich daran gewöhnt zu viel zu denken und zu wenig zu schlafen. Wenn sie gar kein Auge zumachen konnte sieht sie die Welt nüchtern und in einem Grauton. Wenn sie ausgeschlafen hat, wandert sie mit ihrem Hund auf grüne Berge, durch bunte Blumenwiesen und rosa Weizenfelder. Schreibt auch mal Gedichte und Kurzgeschichten, reist am liebsten um die Welt und probiert Neues aus. Sie meint tatsächlich, dass sich alle Probleme lösen liessen, wenn man sich nur ab und zu in die Lage des Gegenübers versetzen könnte. Walk in my shoes und so. Trotzdem versteht sie manche Menschen nicht. Die, die sich vor dem Leben und dem Tod fürchten und andere verurteilen. Aber von den meisten anderen denkt sie, sie seien alle Freunde, die sie bloss noch nicht kennengelernt hat.

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