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Kult Buch: Flieger stören Langschläfer

„Gewinne das Jahr deines Lebens!“, heisst es auf der Etikette, die zu Werbezwecken um den Hals einer Prosecco – Flasche der Marke F**** gelegt wurde. „Einsendeschluss 15.03“. Ich bin Montag Vormittag im R**** Liquidationen, einem Laden dessen Grossteil des Sortiments aus Konkursen und Überproduktion stammt. Wöchentlich wechselnd: Textilien, Food, und Non Food-Artikel, Frisch- und Tiefkühlwaren, zum Schnäppchenpreis. Es gibt sackweise türkischen Tee – fast geschenkt. Adventskalender mit Tittenmäusen drauf (sorry für den Ausdruck), Pelatidosen für 20-köpfige Familien, Lockenwickler im Tigerfelldesign, Playboy-Parfüme, in Plastik eingeschweisste Speckseiten und mexikanisches Bier.

Eigentlich trinke ich nur mexikanisches Bier: entweder ESPIRITU LIBRE S**** oder C**** Bier. Mit noch vom Schlaf verklebten und dicken Augen weiss ich, dass ich weder diesen schrecklichen Prosecco kaufen, noch den Wettbewerb teilnehmen werde. Nicht gewinnen werde ich das Jahr meines Lebens, sondern es wird ganz von selber bei mir zur Türe reinschlittern. So verlasse ich mit meinem dünnhäutigen und zum Zerreissen gefüllten Plastiksack den Laden. Packungen Wiener Kaffee 250 g, röstfrisch gemahlen für 1.50 Franken, Pasta im Monsterpack für 2.50 Fr., 2x Lippen- Pomade für 2.95 Fr., ein Paar neue Schuhe von K**** fürs Boxtraining – die alten stinken schon wie Käse – für 29 Franken.

(***** Namen von der Autorin geändert)

„Sind wir jetzt eine Familie?“ fragt Abel und schaut mich mit Marienkäferaugen an. Alle glücklichen Familien gleichen einander – jede unglückliche Familie ist auf ihre Art unglücklich: Das ist das Anna-Karenina-Prinzip.

Abel, Agnes und Judith. Ein ungewöhnliches Arrangement hat sie zusammengeführt, nun müssen die bürgerliche Vorstellungswelt und das Selbstverständnis gesellschaftlicher Konventionen hinterfragt werden. Dieser neue Weg bringt Möglichkeiten und Probleme mit sich. Festgehalten werden die folgenden Geschehnisse in einem Forschungstagebuch, in dem Judith eigentlich die Arbeit ihrer Dissertation reflektieren wollte. Nach Monaten ist sie von ihrem ursprünglichen Plan so weit abgewichen, als hätte er nie existiert. Etwas anderes macht sich breit: es ist Lust und Freiheit, aber auch Zweifel und Abgründe. Doch gerade diese Verabschiedung von der konformen Welt macht die drei trotz vieler tragischer Momente zu Menschen die glücklich sind, glücklich immer wieder.

Die Story spielt in Bern. Viele Berner werden ihre Hauptstadt und die Schweiz überhaupt nicht wiedererkennen. Es ist wie ein Paralleluniversum, das es dennoch wirklich gibt. Die drei wohnen in einem Haus, das bald der Gentrifizierung zum Opfer fällt. Im Haus teilen sich 24 Leute eine Dusche. Das Wasser sprudelt wie beim Camping aus dem Automaten, gezahlt wird jedesmal pro Gebrauch. So muss mal wieder der Baseballschläger her. Mürbe geworden, ersetzt die Vermietung bald die Zahlungskästchen nicht mehr. Das sind kleine Triumphe – oder doch nicht. Denn aus und ein gehen die Architekten mit ledernen Aktentaschen, freudig, bald hier an bester Lage in der Altstadt eine Luxussanierung machen zu können. Sie sind, wie die Kakerlaken, Mäuse und Fledermäuse im Haus, unbeliebte Gäste, die sich, sobald jemand der Bewohner das Treppenhaus betritt, panisch aus dem Staub machen. In Winternächten brechen Wände entzwei und das Licht in den Glühbirnen friert ein – es ist gut, hier immer eine (oder auch mehr) Personen zwecks Wärme im Bett zu haben. Es gibt nämlich keine Heizung. Wer eine Zeitung braucht, geht auf die Strasse runter, öffnet den nächsten Briefkasten und schnappt sich einen „Bund“. Halbe Kinofilme stehen auf dem Programm: man liest den ersten Teil in der Zeitung und spaziert erst in der zweiten Halbzeit in den Kinosaal rein. Dass das nicht immer so weitergehen kann, ist klar.

Sabine Hunziker
«Flieger stören Langschläfer», Septime Verlag
ISBN: 978-3-902711-52-6

 

(Auszug aus „Flieger stören Langschläfer“)

„Das ist der Himmel der 1990er Jahre! Heute fressen die Leute nur Gesundes. Epikur hätte hier seine Freude gehabt.“ Agnes ist entzückt, steckt ihre Geldbörse ein und setzt sich auf einen Plastikstuhl.

Abel schaut kritisch auf den Tisch vor uns: drei grosse Cola-Becher mit einem Kübel fetter Pommes, Mayo und Ketchup und grosszügige pilzköpfige Burger. Alles auf dem billig geblümten Tischtuch.

„Wer hat den Scheiss hier bezahlt?“, frage ich, weil ich gerade von der Toilette komme und meine nassen Hände am Hosenboden abwische.

„Ich habe das Töpfchen mit Ketchup bezahlt, Agnes den Rest“, meint Abel. Er sitzt schon.

„Ihr versteht echt nichts von Epikur“, stöhnt Agnes empört, „Lebensfreude und Genuss jeden Tag.“ Sie leckt sich die fettigen Finger ab und greift dann wieder zu. Ihr Haar ist noch immer ultrakurz geschoren, weil sie sich mit einem Einwegrasierer um den Kopf gefuchtelt hatte.

„Wo hast du den alten Griechen ausgegraben?“, fragt Abel.

„Das ist das einzige Buch, das ich je gelesen habe.“

„Welches Buch?“, lacht Abel, „Soviel ich weiss, riet er auch, sich aus der Politik rauszuhalten, kein Kapitalist zu werden, sich niemals zu verlieben, zu heiraten und eigene Kinder zu haben.“

„Er wollte wohl Leid und Schmerz aus dem Leben verbannen“, ergänze ich.

Und wer sich um das Morgen am wenigsten kümmert, geht ihm mit der größten Lust entgegen, soll Epikur irgendwann mal gesagt haben. Mir wird klar, warum ich und sogar Abel Agnes brauchen, sie ist Carpe diem und Abel Memento Mori und ich pendle dazwischen. Ich sitze in der Mitte, Agnes stützt sich mit den Ellbogen auf meinem Oberschenkel auf .

„Ich mag Leid und Schmerz“, sagt Abel, „sie sind der Motor, im Leben Dinge zu tun und weiterzukommen.“

„Ich liebe Schwelgerei und Exzesse, Rausch. Totale Lust und totale Sinnlichkeit: Ich habe dafür auch früher die Medikamente abgesetzt, auch für den danach folgenden harten Preis.“

„Jetzt ist ein schöner Moment: Einer jener Augenblicke, in dem man sich umbringen sollte, weil der Zenit erreicht ist und es nur noch abwärts gehen kann. Ich verstehe Selbstmörder nicht, die sich in dunkler Zeit umbringen. Tragisch ist, wenn der Höhepunkt erreicht ist und du weisst, dass es nie schöner werden kann“, ich habe laut gedacht und das auch nicht ernst gemeint.

„Würdest du dich jetzt umbringen?“, Agnes Stimme ist sanft.

„Ja“.

„Und du möchtest als Leiche auf den Augendeckeln zwei vierblättrige Kleeblätter?“, spottet Abel.

„Schau mal, ich ergebe mich, schwing die weisse Fahne und lass dir sogar hier das letzte Wort!“ Ich nehme Abel nicht ernst.

„Nein, mir gehört das letzte Wort. Was wollt ihr noch? Es hängt immer auch von jedem selbst ab, ob er glücklich ist oder nicht und was er daraus macht. Kann man sich in einem Restaurant auf der Menükarte nur die halbe Portion Teigwaren leisten, dann schüttet man halt noch den ganzen mitgelieferten Behälter Reibkäse darüber“, so der Einschub von Agnes.  

Ich staune, was wir für unheimlich komplexe Persönlichkeiten sind – und meine das natürlich ironisch.

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Autor: kultpromotion

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