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FROSCHAUGEN

«Mein Name ist Claire Schaer, als Psychologin kann ich Ihnen sagen, bitte lachen Sie nur. Es macht mir nicht mehr so viel aus. Meine Eltern wollten auch nicht, dass es so klingt und sie konnten nicht wissen, dass ich eines Tages vor Ihnen stehen würde und es laut sagen müsste. Natürlich hätten meine Eltern wissen können, dass ich in der in der Schule und in der Turnstunde mit Namen aufgerufen werden würde. Aber das habe ich ihnen verziehen. Der Name Claire hat meiner Mutter halt gefallen. Die Wunden der Vergangenheit sind heute aber nicht das Thema. Darum sind Sie nicht gekommen. Und doch. Bevor ich zu Ihnen zum Thema: ‘Wie krank machen uns Liebe und Sexualität’ spreche, muss ich Ihnen etwas Anderes erzählen. Es wird Sie enttäuschen. Was Sie hören wollen, ist, es sei gefährlich, es sei ein chemisches, es sei etwas Neurologisches. Was Sie hören wollen, ist: Sie sind ein Opfer. Sie wollen, dass die Frau mit dem komischen Namen Ihnen erklärt, Ihre Empfindungen sind erklärbar. Leider muss ich Ihnen heute eine andere Botschaft überbringen. Sie lautet: Ich habe mich geirrt.»

«Eine Begründung für diesen Irrtum habe ich nicht. Es gibt keine Rechtfertigung. Vielleicht eine. Als Kind ist meine Puppe in die Scheisse gefallen. In Kuhscheisse. Es war meine Lieblingspuppe. Ich habe diese Puppe geliebt. Aber ich konnte sie nicht mehr ertragen. Auch dann nicht, als sie wieder sauber war.»

«In Wirklichkeit möchte ich Ihnen etwas Anderes erzählen. Ich bin damals eine Studentin gewesen. Der Professor hatte selbstverständlich einen Doppelnamen. Günther Altherr-Grün sprach darüber, dass es einen Frosch gebe, dessen Augen so empfindlich seien, dass sie so viel Licht aufnehmen können, dass er praktisch in die Ewigkeit sehen könne. Altherr-Grün sprach auch davon, dass das Licht Widerstand brauche, um zu brechen, um sichtbar zu sein. Der Beweis dafür, weder Zeit noch Raum seien unbegrenzt, weder Zeit noch Raum verliefen auf einer gerade oder gar nachvollziehbaren Linie.»

«Klar, an diesem Punkt kann ich versuchen, Ihnen die dunkle Materie zu erklären, davon, was geschieht, wenn man Teilchen beschleunigt, bis es nicht mehr schneller geht. Davon, dass dann Materie entsteht, die wir nicht kennen. Und davon, dass sie dort vielleicht schön und reich sind, dort sind sie vielleicht, was sie wirklich wollen. Das könnte ich Ihnen gerne erzählen, aber ich glaube Ihnen nicht, dass sie derart viel Geduld haben.»

«Es war an dem Tag als Altherr-Grün die Zeit erklärte. Er erklärte, du kannst die Ewigkeit sehen, wenn du ein Frosch bist. Und auch, wenn du die Ewigkeit gesehen hast, dann brauchst du dich nicht zu fürchten. Auf seine umständliche und brutal komplizierte Art, auch er war ja schliesslich nicht umsonst Professor geworden, erklärte er auch, dass wenn das Licht in die Unendlichkeit ginge, es nirgendwo reflektieren würde. Und wenn es nicht reflektiert würde, so könnte es niemand sehen. Nicht einmal ein Frosch.»

«Mein Name ist Claire Schaer. Ich muss mich bei Ihnen entschuldigen. Sie werden heute keine Tipps für ein gutes Sexleben bekommen. Ich werde Ihnen nicht sagen, was sie tun sollen. Es ist nicht so, dass ich auf das Honorar verzichten könnte. Wenn ich ehrlich bin, kann ich nicht einmal auf Ihre Anerkennung verzichten. Aber ich kann einfach nicht mehr. Denn das alles ist quatsch. Es gibt keinen sicheren Weg, Sex zu haben. Sie können Liebe nicht konsumieren und wenn die Chemie in ihrem Gehirn scheisse ist, so ist es halt so. Alles, was sie mit jemand anderem tun, ist im Grunde gefährlich. Und wissen Sie was? Das ist gut so.»

«Die Vorlesung von Altherr-Grün hat mich zu der Zeit einen Scheiss interessiert. Ich hatte einen neuen Rock an, er war sah ziemlich hexenhaft aus, er war luftig und leicht und mit dem Mai würde es noch wärmer werden. Ich hatte einen neuen Rock. Und obwohl meine Puppe früher irgendwann einmal in einen Kuhfladen gefallen war, war ich verliebt. Ich war verliebt und es kümmerte mich nicht. Er hiess Joel und ich fühlte mich einmalig.»

«Wissen Sie, ich war vielleicht nicht die schönste Frau, meine Beine waren – kräftig, fand ich – ich war jung und fand meine Brüste toll, aber natürlich hatte ich bis dahin an meinem Körper gezweifelt. Ich könnte Ihnen nun sagen, was und wann genau im Gehirn ausgeschüttet wird. Berichten könnte ich von Liebesnächten, die heutzutage zwar wenig verwegen wirken, die aber befriedigend waren.»

«Frauen, ich könnte zu Euch sprechen und Euch sagen, was Ihr hören wollt und müsst. Und Männer, das könnte ich auch für Euch tun. Obwohl sie alle genau dafür bezahlt haben, obwohl ich Eure Zuneigung brauche, und ja, auch das Geld. Trotzdem höre ich damit auf. Ich sage Ihnen nicht mehr, was Sie hören wollen.»

«Mein Name ist Claire Schaer. Für einen kurzen Moment war ich frei. Ich war bereit, das Risiko einzugehen. Sein Name war Joel. Und ich fühlte mich gut. Wissen Sie, ich könnte Ihnen sagen, warum das so ist. Ich kann Ihnen sagen, warum das Dopamin-Level steigt, ich kann Ihnen – das ist auch ein Privileg – erklären, wie Ihr Gehirn funktioniert. Vielleicht würden Sie einen Teil davon sogar verstehen. Und obwohl ich das kann, obwohl Sie es vielleicht verstehen können. Trotzdem ist es falsch. Während ich also hier vor Ihnen stehe, und es mehr als mein halbes Leben gebraucht hat zu erkennen, wie falsch es ist, etwas zu erklären oder zu verstehen oder zu kontrollieren, was wir nicht erklären oder kontrollieren sollen. Nur sie können sich die Liebe erklären. Und auch dadurch wird sie nicht sicherer. Ich kann Ihnen die Chemie in ihrem Gehirn erklären. Aber die Wahrheit ist trotzdem eine andere.»

«Es war so. Meine Puppe ist in die Scheisse gefallen. Sie hiess Maria. Wir waren auf dem Land in den Ferien. Ich hatte etwas Sackgeld bekommen. Ich ging in den Tante Emma-Laden. Damals war es noch nicht schlimm, wenn man mit zehn noch eine Puppe hatte. Ich hatte Geld, ich war aus der Stadt. Ich prügelte mich mit den Jungs. Die Puppe fiel in die Scheisse einer Kuh. Ich brachte sie nachhause zurück. Nicht schlimm. Aber für meine Mutter war es schlimm. Sie verstand es nicht. Darum warf ich Maria fort. Ich warf meine Lieblingspuppe einfach weg. Wegen jemand anderem. Und ich verstand es erst viel zu spät.»

«Mein Name ist Claire Schaer. Es macht mir nichts aus, wenn Sie lachen, aber spätestens jetzt wissen Sie auch warum. Aber bitte glauben Sie mir, ich werde nicht über Sie lachen. Auch wenn ich Ihnen nun doch noch ein paar Sex- und Beziehungstipps geben werde. Ich brauche einfach das Geld. Aber vielleicht hat irgendjemand verstanden, was ich sagen wollte. Auch wenn es mit Joel und den Augen des Frosches nicht geklappt hat.»

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Autor: Andy Strässle

Andy Strässle umarmt Bäume, mag Corinne Mauch und verleugnet seine Wurzeln: Kein Wunder, wenn man aus Blätzbums stammt. Würde gerne saufen können wie Hemingway, hat aber immerhin ein paar Essays über den Mann zu stande gebracht. Sein musikalischer Geschmack ist unaussprechlich, von Kunst versteht er auch nichts und letztlich gelingt es ihm immer seltener sich in die intellektuelle Pose zu werfen. Der innere Bankrott erscheint ihm als die feste Währung auf der das gegenwärtige Denken aufgebaut ist und darum erschreckt es ihn nicht als Journalist sein Geld zu verdienen.

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