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High-Rise – Big Bang im Tower of Power

Spätestens dann, wenn ein Whiskey-Glas auf dem Balkon landet und eine Blondine im Pucci-Dress sich auf der Balkonbrüstung vögeln lässt, sollte einem klarwerden, dass die Apokalypse droht.

Brutalistisches Gebäude aus Sichtbeton

Wenn man jedoch Dr. Robert Laing heißt und hauptberuflich Leichen die Haut vom Schädel zieht, ist man vielleicht weniger empfänglich für solche Vorzeichen. Vielleicht aber auch ist der Tatort mehr als nur ein brutalistisches Gebäude aus Sichtbeton? Vielleicht kriecht etwas Unheimliches durch seine neonkalten Gänge, frisst sich durch seine Zellen wie ein Parasit, verwandelt seine Bewohner in das, was sie schon immer waren: animalische, brutale Assholes, die sich selbst zerfleischen!

 

Kapitalistisches Endstadium

Ben Wheatleys Verfilmung der Ballard-Dystopie „High-Rise“ ist eine Allegorie des Kapitalismus und seiner Auswüchse. Im London der 70er-Jahre stellten Brutalismus-Bauten einen Gegenentwurf zur dysfunktionalen Gesellschaft dar. Nach dem Vorbild Corbusiers errichtete man Wohnmaschinen, die ihren Bewohnern Autarkie und einen sicheren Rückzugsort gewähren sollten. Das System innerhalb des Systems entwickelte sich jedoch von der Wohnutopie zum sozialen Albtraum. Anarchy in the U.K. als kapitalistisches Endstadium!

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God of concrete

Als der Physiologe Laing in den Tower of Power des visionären Architekten Royal (Jeremy Irons sharply dressed in white! Er ist meine Sienna Miller!) zieht, wird ihm schnell klar, dass dieser Turm nach eigenen Gesetzen funktioniert. Pool und Wellness sind nur für die Bewohner der oberen Etagen zugänglich, in den Niederungen siedeln Familien, fortpflanzungsfreudige Individuen, die mit ihrer Brut unweigerlich Nährstätte für anarchistische Tendenzen sind. Je tiefer man sinkt, desto armseliger werden auch die Vergnügungen. Cheap Drinks unten, Koks oben. Freudloser ehelicher Begattungssex downstairs und Kink on the Upper Floor. Der Scalp-Doc Laing fühlt sich in seiner mittleren Etage hin-und hergerissen. Hoch zur kapitalistischen Dekadenz oder hinunter zur sozialistischen Solidarität? So einfach könnte sich sein innerer Zwiespalt gestalten, wenn da nicht der God of Concrete wäre, der das Scheitern seiner Utopie längst ahnt und der Cockney-Dokumentarfilmer (köstliche Ironie!), der sich unter dem Vorwand, dem Verfall nachzuspüren, in den Mäandern entfesselter Begierde verliert. Der Konflikt löst sich schließlich von selbst. Die Autarkie des Systems ist gefährdet durch Energiemangel. Stromausfälle und Versorgungsengpässe provozieren die Wut der Bewohner. Jeder ist sich selbst der Nächste. Man sichert seine Ressourcen, schirmt sich ab und lässt schließlich die wölfische Natur durchbrechen. The Beast in me oder doch ein Systemfehler? Die Annahme, dass das System seine Monster erzeugt, ist fast tröstlich. Eine unkontrollierbare, parasitäre Macht bemächtigt sich des Humanen und zerstört die Hoffnung auf ein besseres Leben. S.O.S. hauchen Portishead ins Mikro (hate it!) und winseln die Geiger des Upper Floors (double hatred!). Das Ende ist unabwendbar: Wie in jeder halbwegs tauglichen Dystopie verschlingt sich die Menschheit selbst oder verspeist zumindest ihre Schoßhündchen!

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Selbstzerstörung des Systems

Das ist natürlich weniger provokativ als Themroc, der französische Politstreifen der 68er, in dem Michel Piccoli die Ordnungshüter verspeist und grunzend sich der französischen Sprache verweigert. Weniger politisch ist High-Rise dennoch nicht. Der Dokumentarfilmer ist eine Parodie britischer Gewerkschaftsführer, Royal ein kapitalistischer Sozialutopist. Laing, typische Mittelklasse, ein Opportunist mit der Devise „Survival of the Fittest“.

Zu guter Letzt triumphiert der uneheliche, zynische Spross des Architekten. Der Vatermord zersplittert in seinem bunten Kaleidoskop. Auf einem Hochsitz thronend filmt er die Selbstzerstörung des Systems. Im Hintergrund erklingt Maggie Thatchers Antrittsrede, die Götterdämmerung des Systems, Morgenröte des Neoliberalismus und der wahren menschlichen Natur. Thatchers Masterplan der Energieverknappung versetzte durch staatliche Manipulation der Kohleversorgung der Arbeiterklasse den Dolchstoß. Keine Working Class heros mehr! No Future!

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Schwaches Echo

Die Chance, tabula rasa zu machen durch eine konsequente Verweigerungshaltung, lässt High-Rise nur als schwaches Echo gelten. Der einzige Punk-Epigonen-Song stammt von DAF. Coco Pino. Ich kann nicht mehr. Ich kann nicht mehr…

Down, down, down

Punk, der sich niemals mit der Arbeiterklasse identifizierte, der der Frauenbewegung ein lakonisches „Ja, aber rhythmisch muss sie sein“ (Fuck off, Nils!) entgegenschleuderte und dem Kapitalismus die Fresse polierte, bis Vivienne Westwoods Sohn „Agent Provocateur“ gründete und die Fashion Queen sich nackt für Jürgen Teller auf der Chaiselongue räkelte, hat keine Chance im Reich der Psycho Killers und Killing-me-softly-Stöhner.

Das alles zieht euch down, down, down? No prob!

So ist das eben im Industrial Estate!

„And if you get a bit of depression

Ask the doctor for some Valium“

– oder besser noch: zieht euch Johnny Thunders rein: „The harder they come“.

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Autor: Theresa S Grunwald

Ekstatische Verzückung, Devotion, deutsche Romantik – Theresa S. Grunwald, das Pseudonym dient als sprachliche Verhüllung, lebt nicht nur in einer pornographischen, von einem leisen Hauch Katholizismus durchwehten Welt. Der Durchbruch ins Animalische gelingt nicht immer, Hölderlins Liebe greift sie manchmal hart am Schopfe. Masken sind aber durchaus ein probates Hilfsmittel, um extreme Widersprüche, Sex und Liebe ist nur einer davon, in Genuss umzuwandeln.

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