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Antarctica

Die Hunde winselten in ihren Käfigen, leicht sich vorzustellen, dass sie einmal Wölfe gewesen waren. Die Maschine wurde vom Wind hin- und hergeworfen, immerhin konnte sie die Kette aus gelben Forschungspods sehen, die wie fünf überdimensionale glubschäugige Schlitten auf ihren Kufen in die arktische Nacht hinausragten.

Bis zum nächsten richtigen Sonnenaufgang würde es noch Monate dauern. Sie fasste sich ans Ohr, der Pilot kreiste über der Station. Man hätte die Forschungsstation einfach wegziehen sollen, da dafür nicht mehr viel Zeit bliebe, das hätte sie den Sesselfurzern in London sagen sollen. Aber sie hätte vieles sagen sollen. Die Körper der Hunde fielen schwer gegen die Gitter, als die Maschine aus ihrer Bahn geweht wurde. Der Pilot geriet bei der Landung unter Zeitdruck. Zwar war im Moment kein Sturm vorhergesagt, doch musste er später versuchen, die Hälfte der Forscher auszufliegen.

Während sie die Köter anbellten

Sie wurde gegen die Hunde geworfen und streckte einen Moment lang alle viere von sich, während sie die Köter anbellten. Nicht so schlimm, dachte sie sich. Natürlich hatte Sean gesagt, die Huskys seien das Fliegen gewohnt. Kein Problem. Aber in den Windböen wurde es halt eins. Sie würde Zeit brauchen, bis sie die Hunde wieder beruhigt haben würde. Siri setzte sich wieder auf und eins der Viecher leckte an ihrem Ohr. Sie wusste, sie durfte die Biester nicht anfangen zu hassen. Die Hunde wären in den nächsten Stunden die einzige Versicherung, die sie hatte. Sie rappelte sich auf, setzte die Kopfhörer auf: «Kommen wir endlich runter, die Tiere sind schon ziemlich wild?»

Fast den Brustkorb zerreisst

«Wir müssen noch eine Runde drehen, da ist irgendetwas auf die Piste gekracht, der Wind fegt uns immer wieder aus dem Landeanflug», sagte der Pilot atemlos. Immerhin, war der Pilot in Ordnung. Da kannte sie andere. Die Stars, die nur in arktischen Stürmen flogen und nach der Landung stolz darauf warteten, bis du fertig endlich gekotzt hast. Es ist nicht schön, bei sechzig, siebzig Grad minus zu kotzen, es ist eine mühsame Angelegenheit, die dir fast den Brustkorb zerreisst. In der dünnen Luft fehlt dir die Kraft zu würgen, aber dein Magen dreht sich trotzdem.

Schliesslich wurden die Hunde ruhig und der Pilot hatte sich ein Herz gefasst. Die Maschine schwankte wie verrückt und die Lichter entlang der Landebahn waren nicht mehr als eine vage Spur, eine Hoffnung. Am Ende setzten sie mit einem Aufheulen der Motoren auf. Sie löste langsam ihre Finger vom Käfig und murmelte: «Ssssch, ssssch» zu den Hunden, bevor sie eilig ohne einen Blick zurück aus der Maschine kletterte.

Sollte er doch warten

Siri liess die Schleusen schnell hinter sich. Eigentlich hätte sie ihre feuchte Kleidung wechseln müssen, aber sie wollte sich zuerst die Wetterprognose ansehen. Es war nicht so, dass sie es wirklich eilig hatte, raus zu kommen. Aber irgendwann musste sie dem verdammten Riss ja auf die Spur kommen. Sie entschloss sich etwas zu trinken. Sie würde Tim noch nicht Bescheid geben, sollte er doch warten. Zwar war es in Neuseeland auch nicht gemütlich, aber was soll’s. Sie hätten die Station evakuieren müssen.

Aber sie hatten es nicht hören wollen. In London hatte sie sich wieder aufgeregt. Dabei mochte sie den Projektleiter Hans Halley gar nicht schlecht. «Ihr Sesselfurzer habt keine Ahnung, ihr starrt nur auf eure Daten und wollt die Scheiss-Pinguine retten.»

Klar, sie konnte nicht sagen, was verkehrt mit Pinguinen war, immerhin konnte man sie als Brennstoff verwenden, wenn man eingeschneit war und es zu kalt wurde. Die Sesselfurzer und deren gläserner Blick auf die Daten war der Grund, warum sie überhaupt einen Job hatte, warum sie, obwohl sie ihr Studium geschmissen und erst einmal etwas länger ins Westend einen trinken gegangen war, überhaupt Expeditionen leiten konnte.

Alles zu kompliziert

Auch die Tierfreaks sorgten für ihren Unterhalt. Aber im getäferten Sitzungszimmer der BAS war ihr das alles zu kompliziert. Die Datenfreaks hatten zusammen mit den Tierfreaks einen Riss im Eis entdeckt. In der Nähe der Station. Sie versuchte sich daran zu erinnern, was BAS eigentlich für eine Abkürzung war, aber ihr fiel nur «British» ein.

In der Station war es warm und da die Bestatzung erst gerade gewechselt hatte, war es überall sehr ordentlich und aufgeräumt. Sie musste aus den feuchten Klamotten raus, wollte sie sich nicht erkälten, was sie draussen schneller erledigen würde, als sie fluchen konnte. Sie musste abchecken, was mit den Scheisshunden war. Sie musste mit Tim reden. Sie nahm einen Schluck Tee und schon strahlte er sie auf dem Computer an: «Schatz, wie geht’s? Gut gelandet?»

«Ich kenne keinen, der seine Freundin raus in diesen Scheiss schicken würde.»

«Du weißt genau, ich würde es liebend gerne selber machen, aber ich habe diese Konferenz, aber ich komme vielleicht nach.» Das würde dieser Spinner wirklich tun. Tim Stockings liebte Eis, Hunde und die Kälte. Tim wollte ihn retten, den Scheissplaneten.

«Es stürmt noch nicht, aber der Wind ist heftig, ich kann mir vom Wetter kein rechtes Bild machen. Ich werde versuchen, mit den Hunden einige Kilometer rauszugehen und die Eisplatte zu vermessen.»

Wirklich wichtig

Sie sagte ihm nicht, dass sie nicht einsah, warum sie das tun musste. Zwar waren die Messungen der Station vielleicht wirklich wichtig. Aber es gab über 85 Stationen in der Antarktis. Da der Südpol niemandem gehörte, wurde hier geforscht wie wild. Was für sie ganz in Ordnung ging.

«Du bist die Beste, Du kennst dich mit Eis aus, wie keine Zweite». Wer hätte das gedacht? Sie kannte sich wirklich mit Eis aus wie keine Zweite. Sie hatte ein Gefühl für Eis. Ein Talent. Manchmal gefiel es ihr am Südpol sogar. Ein riesiges Gebiet. Ohne Gesetz. Ohne Menschen. Naja, auch ohne Tageszeiten und ohne Zigarettenautomaten. Aber man kann nicht alles haben.

«Du willst die Welt retten und darüber reden», sagte sie ihm. Es war nicht fair.

«Ich werde darüber reden, dann komme ich nach, aber es wäre gut, wenn wir bald wüssten, wo der Riss ist. Aber, wenn du denkst, es ist nicht sicher, dann möchte ich, dass du zurückkommst. Klar?»

Die Datenlage nicht klar

Im Kartenraum sah das Wetter nicht allzu schlimm aus. Allerdings erschien ihr die Datenlage nicht klar. Die Sensoren meldeten Verwerfungen in der Eisschickt. Die Satellitenbilder zeigten Ansätze, aber es gelang ihr nicht aus den Daten klar herauszulesen, wie der Riss verlief. Falls irgendwo ein grösserer Riss war, müsste es eigentlich irgendwo auch grössere Eisberge haben, diese müssten auf den Satellitenbildern zu sehen sein. Sie überlegte sich, ob sie Tim nochmals kontaktieren sollte, einerseits, weil sie ob seiner Sorge gerührt gewesen war, andererseits war er der Wissenschaftler.

Da sie sich schon in London lächerlich gemacht hatte, entschloss sie sich der Sache selbst auf den Grund zu gehen. Sie würde einige seismische Messungen durchführen, Sensoren abstecken und so schnell wie möglich zur Station zurückkommen. Sie trocknete sich ab. Die Checkliste brauchte sie eigentlich nicht mehr, aber sie befolgte sie trotzdem. Anders als bei anderen Expeditionen fühlte sie sich desorientiert. Aber ja, vielleicht war es, weil sie sich vor der Langeweile in der Stadt gefürchtet hatte. Und jetzt wünschte sie sich nichts mehr als ratlos zwischen Kleiderständern herumzuschlendern.

Die erste Spur im Eis

Sie fuhr, so weit es ging. Dann lud sie die Hunde und den ganzen Krempel aus. Sie waren nicht mehr allzu weit vom Riss entfernt. Von jetzt an wäre sie vom Instinkt der Viecher und von ihrem eigenen Instinkt abhängig. Der Wind war kalt und hart, aber nahe am Boden, so dass sie in der Dunkelheit eine ganz gute Sicht hatte. Sie wusste, sie müsste aufhören nachzudenken. Sie musste es so schnell wie möglich hinter sich bringen. Die Sonde beim Motorschlitten wäre die erste Spur im Eis.

Die Hunde bellten, zogen am Geschirr. Aber in diesem Moment hielt sie inne. Hatte es plötzlich nicht mehr eilig. Es schien als höre sie in der Dunkelheit einen eigenen Gesang, als erkenne sie im tödlichen Tosen des eisigen Windes ein Muster. Eine Hoffnung gar. Sie platzierte ziemlich schnell hintereinander einige Sonden. Mochte sein, die Hunde waren laut und hatten Flugangst, aber stark waren sie und sie kamen gut vorwärts. Vor einer halben Stunde hätte sie mit der Basis Verbindung aufnehmen sollen. Aber die Sturmwarnung hätten sie ihr auch so durchgegeben.

Aber es gibt ja Pillen

Du solltest dich auf die Linien konzentrieren, auf die Verwerfungen, die kleinen Eistürme. Aber du schaffst es, nicht daran zu denken. Du denkst daran, warum es dir nicht besser gefällt, in der Oxford Street shoppen zu gehen. Du fragst dich, warum du nicht mehr gerne in Finsbury Park rennst, obwohl du gerne rennst. Du analysierst den Horizont, die Eisdecke im Zwielicht und du keuchst und du weißt, es wird noch schlimmer werden. Bei allem High Tech müsstest du langsam wieder zurück. Aber es gibt ja Pillen! Die Absurdität einen Riss im Eis zu suchen, einen verhängnisvollen Riss aufzuspüren, der gefährlich ist, diese Absurdität lässt dich nicht los. Du weißt nicht warum du das tust. Du musst die Welt retten. Wegen dem Ozon, dem Klima? Wenn die Station bleiben kann, so gelingt das. Velleicht. Aber es interessiert niemanden. Ja, was denn? Den Leuten in der Oxford Street erklären, was sie nicht hören wollen. Ach Scheisse. Du merkst plötzlich die Hunde sind stehen geblieben.

Die Hunde standen still. Steif kletterte Siri vom Schlitten. Sie wusste der Riss war irgendwo. Sie legte sich neben den Schlitten und hoffte, die Hunde würden nicht ausreissen. Sie robbte vorwärts und die Kälte in ihren Knochen wurde nur noch kälter. Mit einem Seil hatte sie sich am Schlitten befestigt. Es würde abschüssiger. Die stärkere Lampe klatschte mehrmals auf den Boden. Schliesslich konnte sie den Riss sehen. Es war kein Riss, es war eine Kluft, ein Abgrund. Sie robbte zurück und holte eine Sonde. Nach einer weiteren längeren Kriecherei auf dem Bauch liess sie die Sonde hinunterrollen.

Die Sonde ist weg

Jetzt ist alles anstrengend. Aus der Ferne ist es ja lustig, dass die Pinguine mit einem Luftdruck von 450-Bar scheissen. Aber es geht nicht anders. Die Sonde ist weg und du starrst auf das verdammte Gerät. Der Riss ist ein vierhundert Meter tiefer Graben und die wahrscheinlich länger als die Reichweite der Sonde. Seine Breite ist über hundert Meter, aber es könnte leicht doppelt soviel sein. Bei einem solchen Eisabbruch hättest du auf dem Satellitenbild etwas sehen müssen. Ausser, ausser – aber du glaubst es nicht, weil du schon so kalt hast.

«BAS 53 an Rikki, BAS an Rikki, melde deinen Standort, wir haben starken Wind auf GPS und melden Urgent.» Die Nachricht lief wohl schon einige Zeit. «Wir haben Aufnahmeplan in Effekt, brauchen aber Bestätigung der Koordinaten. London meldet, gefährliches Gebiet. Rückkehr asap.» Bei Bodenwind auf dem Boden robben, keine gute Idee. Amateurfehler, denkst du. Aber du musst zurück, zurück. Du darfst die Scheisshunde nicht erschrecken, sonst kommen sie näher und rutschen schnell und lautlos einfach weg. Shit.

Alleine zu Fuss

Du hast schlimmeres überstanden. Ja! Hast du! Sie robbte weiter. Du kannst das verdammte Gerät nicht sehen. Du willst nicht denken, was du denkst. Dann denkst du es trotzdem. Du bist da. Ziehst dich am Schlitten hoch und scheisst fast in die Hose, weil es so anstrengend ist. Du musst den Funkspruch beantworten, aber es ist so anstrengend, deine Hände zittern, alles zittert, du musst die Hunde von hier wegbringen, sonst stürzt du noch mit ihnen in den Riss. Du hast nichts Schlimmeres überstanden. Du warst in einem Eissturm mit Tim. Du warst drei Tage alleine zu Fuss unterwegs, aber du konntest es und du wusstest noch wohin.

Sie musste sich irgendwo dran lehnen. Sie dachte: «Vielleicht habe ich es geschafft, vielleicht habe ich ein gutes Leben gehabt.» Von der Station aus waren alle Schlitten unterwegs. Das Flugzeug war in der Luft. Tim machte keine Kompromisse. Nicht mehr, als er den Fehler von London bemerkt hatte, dass es sich um mehrere Risse handelte und dass das Eis so oder so bald brechen würde.

Sie richtete sich auf.

«Holt mich hier raus»

Die Hunde keuchten bei 60 Grad minus. Der Wind war hart, wie ein Schwert. Sie versuchte, das verdammte Gerät ruhig zu halten und den Notruf zu senden. «Toll euch zu hören, holt mich hier raus», sagte sie.

«Wir sind auch froh, wir haben alle Daten und wir holen dich raus, das schaffen wir!» Sie lächelte ein langes Lächeln. Sie blickte auf zu den Hunden. Ausgerechnet jetzt musste einer von ihnen scheissen. Es klappte nicht. Zu kalt, zu dünne Luft, zu schwierig. Der Hund fing an zu tänzeln, Hunde, Schlitten, alles fing an zu rutschen.

Wir rutschen, denkst du. Wir rutschen, zuerst langsam, dann schneller. Wir rutschen, denkst du. Aber du hättest eh nicht gewusst, was du an der Oxford Street hättest kaufen sollen. Und wenn ein Kaff in Indonesien weniger absäuft, dann wäre es am Ende vielleicht ok. Aber du denkst auch, es ist nicht schön, so zu rutschen. Zuviele Risse.

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Autor: Andy Strässle

Andy Strässle umarmt Bäume, mag Corinne Mauch und verleugnet seine Wurzeln: Kein Wunder, wenn man aus Blätzbums stammt. Würde gerne saufen können wie Hemingway, hat aber immerhin ein paar Essays über den Mann zu stande gebracht. Sein musikalischer Geschmack ist unaussprechlich, von Kunst versteht er auch nichts und letztlich gelingt es ihm immer seltener sich in die intellektuelle Pose zu werfen. Der innere Bankrott erscheint ihm als die feste Währung auf der das gegenwärtige Denken aufgebaut ist und darum erschreckt es ihn nicht als Journalist sein Geld zu verdienen.

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