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Heute denke ich den ganzen Tag an Gideon Klein

Heute denke ich den ganzen Tag an Gideon Klein. Ich wusste überhaupt nicht, wer Gideon Klein war. Bis ich vor einigen Tagen ins Schauspielhaus ging. Dort sollte das ZKO, das Zürcher Kammerorchester, spielen, Iris Berben die Schauspielerin, Texte rezitieren. Es war einige Tage vor dem achtzigsten Jahrestag der Reichsprogrom-Nacht anno 9. November 1938. Ich ging wegen Iris Berben, deren Filme für mich ein Muss sind. Und ich hoffte, dass die Texte, die sie las, nicht zu traurig sein würden. Man will ja nicht immer darüber nachdenken, sogar ich, als Jüdin. Man will ja mal vergessen, diesen „Vogelschiss“ in der Geschichte des deutschen Reiches, wie es Gauleiter, äh, Herr Gauland von der AFD, neulich formulierte. Leider kann ich das nicht, denn ich fühle mich immer latent bedroht. Obwohl ich mich dagegen wehre, gegen dieses verdammte Opfergefühl. Ich versuche, Demagogen wie Blocher, Köppel, Somm, so einige der rechten und rassistischen Hetzer, in der Schweiz, auszublenden, diejenigen in USA, Brasilien, Polen, Russland – oh Gott, die Liste wird immer länger – zu überhören. Aber war das nicht auch so vor und während der Diktatur der Nazis? Hat man hier und dort und überall nicht lieber weggehört, gehofft, es wird nicht so schlimm, die verschwinden sicher wieder.

An diesem Abend mit dem ZKO und Iris Berben lernte ich Gideon Klein kennen. Das Programm präsentierte beinahe vergessene Musik. Sie war untergegangen, weil die MusikerInnen, KomponistInnen deportiert und ermordet wurden. So wie Gideon Klein. Er wurde 1919 in Prag geboren, war wie man heute sagt: ein Wunderkind. Ich rechnete nach, Gideon war 7 Jahre jünger als mein Vater, einige Jahre jünger wie meine Mutter. Meine Eltern wurden in Zürich geboren. (deren Eltern noch in Polen). Das ist der grosse Unterschied. Gideon wuchs in Prag auf. Gideon wurde 1941 nach Theresienstadt deportiert, während meine Eltern hier in Sicherheit waren. Das haben sie übrigens nie so gesehen, sie sassen buchstäblich jahrelang auf gepackten Koffern. In Theresienstadt, diesem „Vorzeige“-Camp der Nazis, komponierte und spielte Gideon mit und für die Mitgefangenen. Er (über)lebte dort bis 1944, das Kriegsende war ja nah, ich stelle mir vor, dass Gideon hoffte und den Vormarsch der Allierten vielleicht mitbekam. Dann wurde er „verlagert“ nach Fürstengrube, wo er als Arbeitssklave im Steinkohlebergwerg schuftete. In einem Bericht über Gideon las ich, dass er schliesslich „aus ungeklärten Umständen“ starb. Ich dachte darüber nach: Was bedeutete das für Gideon? Wie kann man das verstehen? Ich zitiere nachfolgend aus Wikipedia:

„Das Konzentrationslager Fürstengrube, auch Lager Ostland war eines der größeren Außenlager des KZ Auschwitz.[1] Es befand sich in Fürstengrube (polnisch Wesoła). Am 19. Januar 1945 wurde das Konzentrationslager wegen der herannahenden Roten Armee geräumt. Unter SS-Oberscharführer Max Schmidt wurden die 1283 Gefangenen auf einen Todesmarsch geschickt, der in Fürstengrube mit einer Erschießungsaktion begann und zunächst in das schleswig-holsteinische Ahrensbök, den Heimatort des Lagerleiters, führte. Die überlebenden 400 Häftlinge wurden auf die Cap Arcona gebracht, die am 3. Mai 1945 in der Lübecker Bucht von Flugzeugen der Alliierten versenkt wurde.“

Starb Gideon erschöpft irgendwo am Strassenrand, wurde er mit einem Genickschuss hingerichtet, ertrank er? Ich denke, es ist korrekt wenn ich sage: Gideon wurde ermordet, und das so kurz vor Kriegsende. Wie konnte er das ahnen, als er als kleiner Junge so behütet aufwuchs. Obwohl sein Leben schon früh von den Nazis „verpfuscht“ wurde, gab er jedoch nie auf, in all den schrecklichen Jahren in den Todes-Camps. Und genau das hörte ich auch in Gideons Komposition, die im Schauspielhaus gespielt wurde. Ich kenne mich nicht so aus mit klassischer Musik, aber jetzt merkte ich deutlich, wie die Geigen, der Viola antwortete, wie das Cello sich anschloss. Gideon redete mit diesen Tönen zu dem Publikum damals, im Lager, jetzt zu mir. Und so ging ich nach Hause und wollte endlich vor mir sehen, wer Gideon war. Ich stellte mir einen gut aussehenden Mann vor, der ein gutes, fröhliches, vielversprechendes Leben vor sich hatte. Und als ich die Fotos im Internet ansah, sah ich genau das: Einen gut aussehenden, sensiblen, hoffnungsvollen, jungen Mann. Und deshalb denke ich heute den ganzen Tag an Gideon Klein. Wie er war, was er geschaffen hat, was er alles in seiner, der Welt, gesehen hätte, wenn er länger gelebt hätte? Das macht mich sehr traurig.

Fotos: Die Fotos sind aus diversen Quellen, die das Andenken an die Ermordeten pflegen

Unter dem Stichwort Gideon Klein kann man viele Aufnahmen u.a. auch der erwähnten Komposition anhören.

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Autor: Marianne Weissberg

Marianne Weissberg, studierte Historikerin/Anglistin, geboren in Zürich, aufgewachsen in Winterthur, ist ganz schön vollreif. Also eigentlich schon ewig da, was sie in ihren Knochen und im Hirn spürt. Lange Jahre verschlang das Lesepublikum ihre wegweisenden Artikel und Kolumnen in guten (und weniger guten) deutschsprachigen Zeitungen und Magazinen. Persönlichkeiten aus Film, Literatur und Musik wie etwa Robert Redford, Isabel Allende und Leonard Cohen redeten mit der Journalistin, die ganz Persönliches wissen wollte, und es auch erfuhr. Irgendwann kam sie selbst mit einer Geschlechter-Satire in die Headlines und begann in deren Nachwehen ihre zweite Karriere als Buchautorin. Auch hier blieb sie ihrer Spezialität treu: Krankhaft nachzugrübeln und unverblümt Stellung zu beziehen, bzw. aufzuschreiben, was sonst niemand laut sagt. Lieblingsthemen: Das heutige Leben und die Liebe, Männer und Frauen – und was sie (miteinander) anstellen in unseren Zeiten der Hektik und Unverbindlichkeit. Und wenn man es exakt ansieht, gilt immer noch, jedenfalls für sie: Das Private ist immer auch politisch – und umgekehrt.

Sonst noch? Marianne Weissberg lebt mitten in Züri. Wenn sie nicht Kolumnen oder Tagebuch schreibt, kocht sie alte Familienrezepte neu, betrachtet Reruns von „Sex and the City“, liest Bücher ihrer literarischen Idole (Erica Jong, Nora Ephron, Cynthia Heimel) oder träumt davon, wie es gewesen wäre, wenn sie nicht immer alles im richtigen Moment falsch gemacht hätte. Aber das wäre dann wieder so ein Thema für einen neuen Kult-Text.

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